DIE WELT.de

Ein Ausflug in die Blogosphäre

Internet-Tagebücher von Hamburgern erobern das Netz - Viele sind auf durchaus hohem Niveau - Beschäftigung auch mit Politik

von Björn Siebke

Die Geschichte beginnt noch ganz harmlos. Im Telegrammstil erfährt der Leser: "Der erste Tag in der neuen Stadt. Der erste Tag in der neuen Firma. Nette Kollegen, nettes Büro." Nach diesen Sätzen folgen nur noch Katastrophen. Wer das Weblog "Abgrund Hamburg" über einen fiktiven Neu-Hamburger regelmäßig liest, weiß, daß dieser Arbeitstag noch einige böse Überraschungen bereithält: "Werde mir heute abend eine Wohnung in Mümmelmannsberg ansehen. Finde, das klingt nach Wärme und guter Nachbarschaft."

Weblogs, auch "Blogs" abgekürzt, sind im Internet veröffentlichte Tagebücher. Häufig schildern die Autoren außergewöhnliche Erlebnisse des Tages oder zitieren lesenswerte und kuriose Internetseiten. In der Blogosphäre, wie die Gesamtheit aller Blogs genannt wird, gibt es jede Menge Seiten von Hamburgern und über Hamburger Themen.

Während "Abgrund Hamburg" rein fiktiv ist, bleibt das Weblog "Die Rückseite der Reeperbahn" nahe an der Realität. Verfasser ist Musikjournalist Matthias Wagner, der darin sein Leben auf dem Kiez beschreibt - aus dem Blickwinkel eines Bewohners der Seilerstraße, in der man die Gebäude an der Reeperbahn von hinten sieht. Daher kommt auch der Name des Weblogs. Im Moment macht der WM-Wahn auch vor Wagners Blog nicht halt. Allerdings zeigt sich hier der entscheidende Unterschied zu anderen Medien: Bei Wagner findet die Weltmeisterschaft nicht von der Warte des Sportreporters statt, sondern aus der Perspektive vom Ottonormalfan. Er berichtet beispielsweise von der Atmosphäre nach dem WM-Aus für Deutschland: "Italienische Fans in St. Pauli: "Ihr könnt nach Hause fahrn, ihr könnt nach Hause fahrn!' Ähm, das sind wir doch schon. Und es ist ziemlich nett hier. Viel netter als noch vor vier Wochen."

Wagner ist sehr aktiv als Blogger. Fast täglich bekommen seine Leser zwei bis drei Minuten Lesestoff in bestem Schriftdeutsch und meist ironischem Stil. "Es ist mir wichtig, gutes Deutsch zu schreiben. Die deutsche Sprache ist etwas Wunderbares", sagt Wagner. Die Leser wissen das zu schätzen: Etwa 300 Besucher habe die Seite täglich, berichtet Wagner. Trotz des Arbeitsaufwands von 30 bis 60 Minuten pro Eintrag im Blog gibt es regelmäßig von ihm zu lesen. "Der kreative Aspekt kommt sonst im Beruf immer noch zu kurz", erklärt der Musikjournalist seine Motivation. "Außerdem lernt man durch die Kommentare andere Leute kennen und guckt auch mal über den Tellerrand."

Für Rasmus Henicz, der "Abgrund Hamburg" schreibt, war der Zeitaufwand hingegen zu groß. Seine Beiträge sind zwar noch abrufbar, werden aber seit einem Jahr nicht mehr aktualisiert. "Das Blog war von Anfang an eine Spaßnummer. Und Spaßnummern müssen manchmal leider auf der Ersatzbank versauern", sagt Henicz. Bis heute beschweren sich immer wieder Leser, daß er aufgehört hat. Deshalb will er bald neue Einträge schreiben.

In vielen Blogs wird auch die Hamburger Politik kommentiert. Sucht man etwa bei der Suchmaschine Google nach der neuen Partei von Ex-Justizsenator Roger Kusch "Heimat Hamburg", steht neben der offiziellen Internetseite ein Eintrag im Weblog "Ringfahndung" ganz oben in der Trefferliste. ""Heimat' gehört uns allen, Herr Kusch", empört sich der Autor über die Vereinnahmung des Heimatbegriffs für die Partei. "Dieses wichtige Wort gehört Ihnen nicht. Geben Sie es wieder her." Autor dieser Zeilen ist Erik Hauth, der von sich sagt: "Ich wollte schon immer eine eigene Online-Publikation haben." Vom Prinzip des Weblog ist er "fasziniert". Die Tagebucheinträge sind aber nicht nur politisch. Ein Bericht von einem Spiel des HSV gehört manchmal auch dazu. Daß die Technik langsam aber sicher in die Sphären des Mainstream vordringt, zeigt sich daran, daß einige Blogger mit ihrer Tätigkeit bereits Geld verdienen. Hauth hat immerhin ein Mobiltelefon zum Testen bekommen und soll darüber in seinem Weblog berichten. "Ich halte von einer Verteufelung der Vermarktung gar nichts", sagt Hauth unbeeindruckt davon, daß viele Blogger eben dies tun, weil sie sich als Gegenöffentlichkeit verstehen.

Hauth sieht die sich abzeichnende Kommerzialisierung sehr locker und kommentiert selbstironisch: "Wenn es jetzt schon so viele Bekloppte gibt, die meinen Dünnsinn lesen wollen - wie viele würden es erst lesen, wenn ich das noch etwas professioneller machen würde?" Auch wieder wahr.

Artikel erschienen am Do, 6. Juli 2006

Artikel drucken
© WELT.de 1995 - 2006