Ryan
Gallagher ärgerte sich mal wieder über seine Kamera, warf sie aus Frust
in die Luft - und erfand ein neues Genre: Kamerawurf. Es entstanden
bizarre, teils hochabstrakte Fotos. Inzwischen setzen auch ein paar
andere Fotografen nach seinem Vorbild ihre Ausrüstungen aufs Spiel.
Ein
gewisser Kitzel ist dabei, wenn Ryan Gallagher aus Austin sein betagtes
Agfa-Modell durch die Luft wirbelt. Jeder Schnappschuss könnte der
letzte sein. Denn es gilt, die Kamera wieder aufzufangen, nachdem sie,
um die eigene Achse rotierend, ein neues Streifenmuster aus Licht
eingefangen hat.
ZUM WEGSCHMEISSEN: KAMERAS GEHEN IN DIE LUFT
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Der 28-Jährige Texaner hat schon alle Varianten ausprobiert: das
Selbstporträt aus einigen Metern Höhe, Blitz an, Blitz aus, diverse
Wurf- und Rotationstechniken. Gallagher betreibt eigens ein Blog zum
Thema Kamerawurf (Camera Toss) - und kennt mehr als 20 Gleichgesinnte, die regelmäßig ihre neuesten Luftschüsse auf flickr.com posten.
Auf die Idee, seine Digicam hochzuwerfen, kam er, weil er sich über das
Modell ärgerte. "Es war Nacht, aber meine billige Kamera mit 800 mal
600 Pixeln konnte überhaupt keine guten Nachtfotos schießen", sagte er
SPIEGEL ONLINE. "Ich spielte mit langen Belichtungszeiten, während ich
die Kamera bewegte - das war das Einzige, was ich mit dem Ding
überhaupt anstellen konnte." Schließlich habe er die Kamera nach oben
geworfen. "Die Ergebnisse, selbst mit diesem Schrottmodell, ließen mich
weitermachen."
Gallagher war so fasziniert von den verschiedenartigen Mustern, dass er eine Rubrik auf dem Fotoblog-Portal flickr.com einrichtete. "Mittlerweile gibt es eine kleine Community von vielleicht 25 Leuten", berichtet er.
Noch vor nicht allzu langer Zeit galt die Lomografie als hipper Trend
im Fotopop; der Kamerawurf könnte sie jetzt beerben. Er hat einen
entscheidenden Vorteil: Das Werfen funktioniert mit fast jeder
x-beliebigen Kamera.
Für interessierte Einsteiger hat der Texaner eine Mini-Gebrauchsanleitung verfasst "So werfe ich die Kamera". Verkürzt wiedergegeben, lautet sie:
Objekt suchen
Selbstauslöser drücken
Werfen
Fangen (optional)
Was
klingt, wie eine neue Interpretation des Begriffs Wegwerfkamera,
scheint in Wirklichkeit weniger gefährlich zu sein. "Ich habe meine
Kamera noch nie gecrasht", sagte Gallagher. Gleichwohl müsse man gut
aufpassen, vor allem bei beweglichen Teilen, die aus dem Gehäuse ragen
wie dem Objektiv. Kleinere, leichtere Modelle seien generell zu
bevorzugen; Batterien und Speicherkarten hielten Stöße gut aus.
Was die Wurftechnik angeht, will sich Gallagher nicht festlegen. "Es
geht nicht um Höhe", erklärte er, auch wenn mancher Anhänger des Camera
Toss Luftbilder als echte Herausforderung betrachte. Wichtig sei vor
allem die Rotation, in die man das Gerät versetze. Er bevorzugt die
abstrakte Wurffotografie - nachts vor bunter Neonreklame - das ergibt
phantastische Lichtkurven. Manches Foto erinnert an die Ringe des
Saturn; andere gleichen komplex gezeichneten Figuren.
Ausdrücklich warnt Gallagher vor dem Blitz: "Eine Kamera aufzufangen,
von der man gerade geblendet wurde, kann sehr, sehr schwierig sein."
Aufnahmen bei Tageslicht wirken teilweise psychedelisch. Sie zeigen
einen Blick auf die Welt, wie man ihn ansonsten wohl nur durch gewagtes
Kombinieren von Amphetaminen, THC und Alkohol zu sehen bekommt. Die
unvermeidliche Bewegung der Kamera im Moment der Aufnahme erzeugt eine
bizarre Unschärfe, die selbst ein Photoshop-Profi kaum besser zaubern
könnte.
"Manche Leute lassen ihre Kamera auch an einem Fallschirm zur Erde
gleiten", erzählt Gallagher. Fake-Aufnahmen habe er aber noch keine
entdeckt. Und selbst wenn es jemand mit Bildbearbeitung versuchen
würde, es würde auffallen, glaubt er. "Die meisten Fotoexperten können
die sogenannte digitale Körnung erkennen, die entsteht, wenn Licht auf
die Sensorfläche fällt."
Vielleicht kann der Mann aus Austin, der sich im Augenblick als
Teilzeit-Bühnenarbeiter durchschlägt, mit seinen Fotos ja eines Tages
sogar Geld verdienen. Seit sich die Medien für sein Blog interessieren,
hat er immerhin schon eine Aufnahme an eine Tageszeitung verkauft. Im
Netz sind die Luftbilder jedoch frei zugänglich: auf flickr.com und in
Gallaghers Blog.