Der historische Tag
Von allen höchst erstaunlichen Un- und Eigenarten des Franken ist die erstaunlichste sein immenses Esstempo. Gäbe es eine Formel 1 in dieser Disziplin und wäre sie ähnlich dotiert wie die, in der Fernando Alonso tätig ist, so bräuchte sich der Franke um sein Auskommen nie mehr zu sorgen. Und seine Nachfahren auch nicht.
Jahrelang schlug er uns beim Essen um Längen, immer und überall. Regelmäßig wurde er so zum Gegenstand unseres süffisanten Spotts, der sich aus Hilflosigkeit ebenso speiste wie aus blankem Entsetzen.
Worin genau seine überlegene Esstechnik besteht, wie er auf dieses immense Tempo kommt, das offenbar niemand inner- und außerhalb Ottensens mitzugehen in der Lage ist, wurde übrigens bis heute nicht richtig erforscht. Dabei ist der Ablauf praktisch immer gleich: Das Essen wird serviert (bis dahin hat der Franke meist schon den Inhalt zweier Brotkörbe intus, minus jener Bröckchen, die der Rest von uns ihm mühsam entwand), alle beginnen mit dem Verzehr, das Gespräch dreht sich um dies und das, der Franke macht hier eine Bemerkung und da eine (er klinkt sich also nicht aus, wie man vermuten könnte), und schwuppdiwupp legt er plötzlich das Besteck beiseite, während Dagteller noch dabei ist, das zweite Salatblatt mit der Gabel anzuvisieren.
Man merkt einfach nicht, wie er das macht. Geräuschlos und ruhig saugt er in Sekunden zwei Nürnberger Rostbratwürste mit Salzkartoffeln und Sauerkraut weg. Und danach stiert er dir zufrieden grinsend auf den Teller und will dich nervös machen während der Viertelstunde, die du unweigerlich noch beschäftigt sein wirst mit deiner Portion.
Einmal aber geschah etwas, was bis heute schwer begreiflich ist: Er verlor. Ich erinnere mich noch daran, als wäre es gestern gewesen. Wenn man mich fragte, wo ich war, als Lady Di starb, würde ich sagen: in einem Flur in Wolfsburg. Und genauso deutlich weiß ich auch noch, wo ich war, als der Franke verlor: am gleichen Tisch wie er, in der Werkstatt 3 in Ottensen.
Aus irgendeinem Grund saß einer von uns plötzlich vor seinem blankgeputzten Teller, während der Franke gerade erst auf die Zielgerade einbog. Es war ein andächtiger Augenblick, der uns unwillkürlich gemeinsam innehalten ließ. Doch dieser Moment hatte auch etwas zutiefst Beunruhigendes. War der Franke krank? Ging es ihm nicht gut? War ein bislang inaktives Gen – vielleicht durch geheime militärische Experimente des Mossad in der Stratosphäre – zum Leben erwacht, welches ihm die Möglichkeit des Langsamessens, des Gönnenkönnens, des Nichtgewinnenwollens bot?
Es war vollkommen rätselhaft. Nach diesem gleichsam metaphysischen Moment allgemeiner Würdigung und Kontemplation am Tisch war es der Franke selbst, der die heilige Stille brach. „Du bist vor mir fertig“, stellte er fest, und zwar mit jener wuchtigen Nüchternheit, mit der Mose dereinst das erste Gebot verlesen haben muss. Wir alle wussten sofort: Dies war ein historischer Moment. Und wir durften dabei sein. Das unfassliche Ereignis wurde sodann zum Gespräch des Tages, wie auch anders. Jetzt diskutierten alle durcheinander, fassungslos, aufgebracht und rotwangig vor Erregung.
Wie sich herauskristallisierte, war der Franke gottlob keineswegs krank, sondern hatte es lediglich beim Frühstück versäumt, die Kalorienzufuhr leidlich im Rahmen zu halten, was sein mittägliches Esstempo auf unerwartet enorme Weise abbremste. Und so konnte jemand aus der Bezirksklasse den Champ besiegen, ein einziges Mal.
Nach diesem Tag beschlossen wir, den Themenkomplex nicht mehr anzuschneiden. Kein Spott mehr, keine Süffisanzen. Wir hatten die Sonne gesehen, jetzt war es nicht mehr wie früher. Ein Mythos war zerstört.
Natürlich folgten Jahre, in denen er uns wieder unerbittlich in Grund und Boden aß. Doch jener Tag, als einer von uns vor ihm fertig war, wird für immer unvergessen bleiben. Wie der 4. Juli 1954 im Berner Wankdorfstadion. Oder der, als die Dinosaurier ausstarben.
Weitere Teile der Frankensaga:
Der Alditag
Der Faschingskrapfen
Der Klozechpreller
Der Dude
Jahrelang schlug er uns beim Essen um Längen, immer und überall. Regelmäßig wurde er so zum Gegenstand unseres süffisanten Spotts, der sich aus Hilflosigkeit ebenso speiste wie aus blankem Entsetzen.
Worin genau seine überlegene Esstechnik besteht, wie er auf dieses immense Tempo kommt, das offenbar niemand inner- und außerhalb Ottensens mitzugehen in der Lage ist, wurde übrigens bis heute nicht richtig erforscht. Dabei ist der Ablauf praktisch immer gleich: Das Essen wird serviert (bis dahin hat der Franke meist schon den Inhalt zweier Brotkörbe intus, minus jener Bröckchen, die der Rest von uns ihm mühsam entwand), alle beginnen mit dem Verzehr, das Gespräch dreht sich um dies und das, der Franke macht hier eine Bemerkung und da eine (er klinkt sich also nicht aus, wie man vermuten könnte), und schwuppdiwupp legt er plötzlich das Besteck beiseite, während Dagteller noch dabei ist, das zweite Salatblatt mit der Gabel anzuvisieren.
Man merkt einfach nicht, wie er das macht. Geräuschlos und ruhig saugt er in Sekunden zwei Nürnberger Rostbratwürste mit Salzkartoffeln und Sauerkraut weg. Und danach stiert er dir zufrieden grinsend auf den Teller und will dich nervös machen während der Viertelstunde, die du unweigerlich noch beschäftigt sein wirst mit deiner Portion.
Einmal aber geschah etwas, was bis heute schwer begreiflich ist: Er verlor. Ich erinnere mich noch daran, als wäre es gestern gewesen. Wenn man mich fragte, wo ich war, als Lady Di starb, würde ich sagen: in einem Flur in Wolfsburg. Und genauso deutlich weiß ich auch noch, wo ich war, als der Franke verlor: am gleichen Tisch wie er, in der Werkstatt 3 in Ottensen.
Aus irgendeinem Grund saß einer von uns plötzlich vor seinem blankgeputzten Teller, während der Franke gerade erst auf die Zielgerade einbog. Es war ein andächtiger Augenblick, der uns unwillkürlich gemeinsam innehalten ließ. Doch dieser Moment hatte auch etwas zutiefst Beunruhigendes. War der Franke krank? Ging es ihm nicht gut? War ein bislang inaktives Gen – vielleicht durch geheime militärische Experimente des Mossad in der Stratosphäre – zum Leben erwacht, welches ihm die Möglichkeit des Langsamessens, des Gönnenkönnens, des Nichtgewinnenwollens bot?
Es war vollkommen rätselhaft. Nach diesem gleichsam metaphysischen Moment allgemeiner Würdigung und Kontemplation am Tisch war es der Franke selbst, der die heilige Stille brach. „Du bist vor mir fertig“, stellte er fest, und zwar mit jener wuchtigen Nüchternheit, mit der Mose dereinst das erste Gebot verlesen haben muss. Wir alle wussten sofort: Dies war ein historischer Moment. Und wir durften dabei sein. Das unfassliche Ereignis wurde sodann zum Gespräch des Tages, wie auch anders. Jetzt diskutierten alle durcheinander, fassungslos, aufgebracht und rotwangig vor Erregung.
Wie sich herauskristallisierte, war der Franke gottlob keineswegs krank, sondern hatte es lediglich beim Frühstück versäumt, die Kalorienzufuhr leidlich im Rahmen zu halten, was sein mittägliches Esstempo auf unerwartet enorme Weise abbremste. Und so konnte jemand aus der Bezirksklasse den Champ besiegen, ein einziges Mal.
Nach diesem Tag beschlossen wir, den Themenkomplex nicht mehr anzuschneiden. Kein Spott mehr, keine Süffisanzen. Wir hatten die Sonne gesehen, jetzt war es nicht mehr wie früher. Ein Mythos war zerstört.
Natürlich folgten Jahre, in denen er uns wieder unerbittlich in Grund und Boden aß. Doch jener Tag, als einer von uns vor ihm fertig war, wird für immer unvergessen bleiben. Wie der 4. Juli 1954 im Berner Wankdorfstadion. Oder der, als die Dinosaurier ausstarben.
Weitere Teile der Frankensaga:
Der Alditag
Der Faschingskrapfen
Der Klozechpreller
Der Dude
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