Was kann Ernst Kahl
eigentlich nicht? Gerade ist ein Kunstband erschienen, der ihn als Klon aus
Busch, Magritte, Caspar David Friedrich und Hitchcock ausweist. Aber Kahl ist
auch Musiker, Drehbuchautor, Humorist und Kolumnist. Was bleibt, wenn man all
das wegrechnet? Ein Hausbesuch soll Klarheit bringen.
Wer zu
Ernst Kahl will, muss in einen Hamburger Hinterhof. Der Gang dorthin ist dunkel
– dass bloß der australische Chardonnay, den man vorsorglich dabei hat,
nirgends aneckt! Denn Kahls Stimme am Telefon hob sich merklich, als man das
geistige Mitbringsel erwähnte. „Flasche Wein? Eigentlich hatte ich heute abend
zwar einen Termin mit einer balinesischen Tempel- und Nackttänzerin, aber für
einen australischen Chardonnay lasse ich alles stehn.“
Bei Kahl sieht es nach Bombenterror oder brünstigem
Hauskater aus. Der legere Hausherr im gerippten Pulli ist damit sehr zufrieden.
„Ich habe gerade ein wenig aufgeräumt“, sagt er nicht unstolz. Jeans liegen auf
der Heizung, in den Ecken Gitarren. Herum hockt protzig ein Schlagzeug. Wir
sind in Kahls Wohnzimmer, das auf eine kunstlose Art nicht eingerichtet ist.
Kahl ist völlig unspießig, aber nicht aus Ideologie. Er findet einfach nichts
dabei, wenn Stühle dastehen wie vom Spediteur vergessen. Wenn Boden und Tisch
mit Blättern unterschiedlicher Wichtigkeit bestreut sind. Wenn die Wände alle
kahl sind und nicht voller Kahls.
Sollte seine junge, frische
Freundin hier mal einziehen, was sie sich durchaus vorstellen kann und Kahl
auch schon ein bisschen, dann will sie zuerst Struktur ins Chaos bringen. Das
wäre dann die erste Struktur, mit der er leben könnte. Vielleicht. Hier haust
offenbar ein Bohémien, vielleicht auch ein Chaot oder ein Bettler oder einer,
der alles zusammen ist – aber doch keiner, dem Filmproduzent Bernd Eichinger
für eine Woche Drehbuchschreiben mal eben 10 000 Mark überweist, obwohl
das Ding dann doch nicht verfilmt wird.
Ja, der Herr Kahl: ein verwuselter Wohner, aber ein
genauer, manischer und verlässlich kreativer Kunstarbeiter. Drei Wochen lang
hat er gerade gepinselt wie ein Galeerensklave, weil in Bochum eine
Strindberg-Premiere von Freund Detlev Buck droht und im Schauspielhaus
pünktlich echte Kahls hängen sollen.
Alte Bilder malte er dafür groß nach. „Winzige
Boshaftigkeiten auf große Formate – und plötzlich kriegen die was Klassisches“,
wundert er sich. Winzige Boshaftigkeiten? Kahl meint Bilder wie
„Mondscheinidyll“. Drauf ein Gör mit blutverschmiertem Mund, daneben ein
Kampfhund mit durchbissener Kehle.
„Das ist ganz merkwürdig“, sagt er ernst. „Niemand würde
sich trauen, so ein Motiv ganz groß zu malen.“ Niemand außer Kahl.
Wissen die Bochumer eigentlich, welche Kulissenschocker da
auf sie zukommen? Kahl grinst genüßlich und tut, was er unablässig mit seiner
weitläufigen Bude tut: Er qualmt sie voll. „Ich glaube nicht. Fürs Theater ist
es wahrscheinlich schon ein Hammer. Es hat eine … banale Hintergründigkeit.
Dadurch, dass ich lakonisch und banal die absoluten Grausamkeiten beschreibe, haben
sie etwas Alltägliches. Nicht wie Helnwein, der schockieren will mit richtigen
Schmerzbildern. Meine sind ohne Blut, ohne Grauen, aber witzig. Viele werden
sagen: Das ist doch keine Kunst. Aber diesen Kampf nehme ich gerne auf. Es wird
Zeit, dass das Absurde und Komische Eingang in die Kunst finden. Beim Lachen
hört die Kunst auf, und das ist ein Witz.“
Nach der wochenlangen Malorgie, zu
der er sich gar die Matraze ins Atelier holte, kann Kahl kaum noch stehen. Er
stakst einher wie ein Storch. Alle zwei Tage ein Bild, davor die Produktion des
voluminösen Bandes „Kahls Künste“, zwischendurch Songs schreiben, sie mit
Kumpel Hardy Kayser aufnehmen im kleinen Heimstudio, Konzerte geben, das
Drehbuch für Wigald Bonings ersten Kinofilm „Die drei Mädels von der
Tankstelle“ schreiben (Start: 12. Juni): Jetzt ist er schlapp, der Kahl.
Ein Wunder, dass er noch zum Aufräumen gekommen ist. Ein
Wunder auch, dass das Telefon den ganzen Abend nicht klingelt. Aber Kahl ist
ein Voodoopriester auf intuitivem Feldzug gegen funktionierende Technik. Wenn
er kommt, versagen CD-Player, Platten gehen kaputt. Nacheinander werden sich
heute abend vier Batterien weigern, das Aufnahmegerät zu betreiben.
„Die Technik“, sagt der computerlose Kahl befriedigt, „mag
mich nicht. Und ich mag die Technik nicht.“
Er ist jetzt 47 und berühmt. Seine Bio im Zeitraffer: in
Kiel geboren, Kinderlähmung mit vier, zwei Lehren geschmissen, mit 17 von zu
Hause abgehauen, Kunststudium in Hamburg an- und abgebrochen, Bildersammlung in
der S-Bahn vergessen, Hilfslehrer auf der Hallig Hooge, nach vielen, auch
amourösen, Wirren zurück nach Hamburg.
„Bin vom Leben“, grinst Kahl, „mit rauher Zunge beleckt
worden.“ Zu den karrieregefährdenden Defekten der frühen Jahre gehörte nicht
nur eine solide Grundrenitenz gegen „Strukturen“, sondern auch eine handfeste
Paranoia. Die wurde er irgendwann wieder los, seinen Schiss vor Prüfungen
dagegen nie. Bis heute examinierte noch keine Kommission dieser Welt den Kahl.
Damals, auf der Kunsthochschule, haben sie ihn dank der mitgeführten Mappe
genommen. Rechtzeitig vorm Abschluss schlich er sich.
So einer hat auch keinen Führerschein. Wenn man ihn fragt,
warum, erzählt er immer, er sei mal mit dem Auto in eine Fußgängergruppe
gerast. Drei Tote, aber nicht seine Schuld – Getriebeschaden halt. Dann genießt
er die Betretenheit und grinst sich heimlich eins – Kahlscher Humor. Aufgeklärt
wird die Schauermär natürlich nie.
Nicht nur wegen seiner Prüfungsangst wird Kahl kaum noch
zum Führerschein kommen; er ist einfach ausgelastet bis zum
Nichtmehraufräumenkönnen. Bei dem, was er so alles macht, wird einem ganz
schwindlig, und dabei ist der Wein gerade erst entkorkt.
Kahl malt und zeichnet, mal wie ein alter Meister, mal
kunstvoll ungelenk wie ein Pennäler; Kahl schreibt, singt, macht dies und das
und irgendwie alles richtig. Ist die Zeit der Universalgenies nicht vorbei? War
nicht circa Goethe der letzte, der dichtete, dokterte und kritzelte?
Kahl macht das auch, nur komischer, respektloser. Der
Clash der Hoch- und Tiefkulturen – wenn Kahl kommt, rasselt es richtig. Er, der
ein Traktat mal ironisch „Die kleine Kunst des geraden Blicks“ taufte, ist
nämlich ein Kreuz-und-quer- und Drunter-und-drüber-Gucker.
So verblüffend leicht er auch zwischen Vermeer und Disney,
zwischen Karl Kraus und Heinz Erhard changiert, so wenig achtet er den Ernst
der Lage. Nach allem, was so rauszulesen und -lachen ist aus seinem Werk, ist
Kahl ein Nihilist.
Man stößt auf Mönche, die Tote begatten, und auf Kinder,
die Lehrer enthaupten. Keine Werte, nur Werke? Ein Gott nach Kahlschem Gusto
muss ein Freak sein.
„Gott?“ japst Kahl. „Unvorstellbar für mich. Ich arbeite
gerne mit Klischees, die es über Religion gibt, um zu irritieren. Aber so
überstark, dass sie schon wieder komisch sind.“ Als Knabe sang er im Chor, doch
kurz nach der Konfirmation sagte er Tschüs zur Kirche. Der Pastor versuchte
noch, ihm ins Gewissen zu reden. Nützte nichts: Kahl hatte gar keins.
Ihm scheint nichts heilig zu sein. „Ein völlig falscher
Eindruck“, wehrt er ab. „So vieles ist mir heilig – ich versinke in Ehrfurcht
davor. Nehmen wir die Punks mit ihrer Hoffnungslosigkeit und zugleich ihrer
ganzen Liebe. Die sind mir heilig: die Parias unserer Gesellschaft.“
Ernst Kahl ist das, was Kris Kristofferson mal über Johnny
Cash sagte: „a walking contradiction“. Nichts an ihm ist stimmig. Kahl hat
keine Glatze, und Ernst ist witzig. Und sein Spaß fängt da an, wo er gemeinhin
aufhört. Dabei will er gar kein Wadenbeißer mit Ansage sein wie Wiglaf Droste.
Nur sich lustig machen über „Strukturen“, wie er alles nennt, was einengt,
niederdrückt oder uns Blödsinn nachplappern lässt.
Das kostete ihn 1989 den Job beim Politmagazin Konkret.
Wegen Rassismus.
Was hatte er getan? Den linken Kuscheltierblick auf Ausländer veralbert, indem
er eine Galerie malte mit Ausländern, die wählen dürfen sollen und solchen, die
nicht; und letztere waren dann alles Verbrecher und phsyiognomisch Missratene.
Da durchfuhr ein „Huch!“ die Redaktion, und ihren Rat kann Kahl bis heute
auswendig hersagen: „Auf die Deutschen kannst du einhauen, wie du willst“,
beschied man barsch, „aber nicht auf die Ausländer!“
Die Satirezeitschrift Titanic füllte die publizistische
Lücke, Kahl dagegen keine Konkret-Seiten mehr. Inzwischen hat er auch mit den
Titanic-Leuten Probleme: „Das sind alles Oberschüler. Kein Platz für einen
einfachen Scheißwitz, der nicht intellektuell sein will.“
Einen wie den, den Kahl mal malte: Hängt ein Spiegelei am
Himmel, und drunter steht – „Ei in the sky“. Ein echter Kahlauer. Oder den:
Liegt eine verreckende Vettel im Sterbebett, Gevatter Hein steht schon am
Bettpfosten, und sie begrüßt ihn in letzter Lüsternheit mit: „Tod, wo ist dein
Stachel?“
Zeit, mit Kahl über Kunst zu reden. Er zeigt auf einen
Pflasterstein in der Ecke, auf dem eine Steinkugel liegt. Nicht irgendeine, ein
Mahlstein aus der Steinzeit. „Ist das Kunst?“ fragt er rhetorisch. „Ich könnte
es auch auf einer Ausstellung für sich selber sprechen lassen.“
Heute nacht noch, nach dem Chardonnay, will er irgendwo im
Viertel ein komisch geformtes Holzstück auflesen, das ihm mittags beim
Spaziergang auffiel.
„Ein Stamm mit `ner Gabel“, erinnert er. „Sieht aus wie
eine früheisenzeitliche Götterstatue, die sie in Schleswig manchmal aus dem
Moor holen. Das wird hier irgendwann stehen.“ Aber Kunst? Jedenfalls
Kahl-genehm. Genau wie das Morbide, Böse und Banale, wie Perfides und
Peinliches, Plattes und Naives, die Zote, das Hochkünstlerische und der
Kalauer. Bei ihm koexistiert all das durcheinander. Deshalb eckt er oft an,
nicht nur bei Snobs.
Kahl ist ein Toleranzgrenzentrüffelschwein. Wie
erleichternd, dass selbst so einer seine Vorurteile hat. „War heute beim
Griechen essen. Da lief so eine Blubberhiphopscheiße, so ‘n Kommerzquatsch. Ich
bin richtig explodiert.“
Dem Kahl kann man nur mit Stones kommen und Animals. Der
Grenzverletzer und Genrevermischer, der noch jedes Idyll per Pinselstrich
gekillt hat: Hier ist er dogmatisch. Hier gilt das Wahre, Schöne, Gute, nicht
der Hip von heute.
Seine eigenen Songs sind niedliche
Pseudo-Kinderlieder („Die rüstige Frau Reimann / sieht aus wie Billy Wyman /
Marie, die alte Fotz / geht weg als Charlie Watts“). Sie haben Plinkergitarren
und hopsigen Takt. Und zwischen zwei Endreimen flieht bisweilen ein Einsamer
zur tiefgefrorenen Lieblingsleiche.
„Es kommt immer darauf an, wie man sich einem Thema
nähert“, findet der Geist, der sich solches ausdenkt. „Unbeholfen etwas
Gemeines erzählen, kommt konspirativer daher.“
Das versteht nicht jeder. Kahl ist vielen ein Rätsel. Wie
und was er malt und schreibt: Das beflügelt die Fantasie über den Urheber.
Dabei ist er keiner, der Drogen braucht, um ein schlangenjagendes Karnickel zu
visionieren. Nein, mit koksgetrübtem Blick wäre die sich dahinter
perspektivisch perfekt verlierende Landschaft nicht zu schauen und nicht zu
malen. Für so etwas musst du wach sein. Und eine Hand haben, die nicht zittert.
Max Goldt, das hat Droste ihm geflüstert, hält Kahl für
einen bitterbösen Menschen. Das versteht er kein bisschen. Vielleicht hat Goldt
zu lange vorm Gemälde „Abendfrieden“ gestanden, wo eine Familie unter einem
Galgen rastet, an dem noch ein Gehenkter baumelt. Und helle, wie Kahlsche
Bilderkinder sind, haben Brüder- und Schwesterlein der Leiche ein Brett
zwischen die Füße gebunden, damit sie als Schaukel taugt.
Kahl travestiert das Erhabene durch das Gemeine, meint
eine Exegetin. Macht ihn das bitterböse? „Nein, wirklich nicht“, sagt Kahl,
„für mich ist das Lebenshilfe, Dinge absurd zu betrachten. Komik ist Notwehr.“
Gegen Strukturen natürlich.
Alle Kunst und Komik schöpft er aus sich selber, denn er
konsumiert die Kinkerlitzchen der Konkurrenz nicht. Wie bei so wenig Input
soviel herausfließen kann, ist das größte Rätsel. Durchs Dauerknutschen mit
Kahl will die Muse wohl ins Guinness Buch der Rekorde.
Und sie steckt ihm wirklich komische Sachen. Einem
Kasseler documenta-Funktionär schlug Kahl vor, den Bahnhofsvorplatz
umzugestalten, dies jedoch von Pygmäen tun zu lassen. „Fragt der Typ nach der
Aussage“, feixt Kahl. „Und ich sage: Scheiß auf die Aussage! Ich find‘s einfach
klasse!“
Nein, Kahl ist kein Intellektueller. Wer mit ihm über die
Bedeutung des Kreises im Spätwerk Kandinskys reden will, kriegt einen Korb und
Chardonnay nachgeschenkt.
Kahl weiß ja nicht, was Kunst ist. Er weiß nur, was dabei
herauskommt, wenn er etwas klasse findet.
Und das reicht wahrscheinlich für die Unsterblichkeit.
Matthias Wagner