Unser Bauch-/Rückenkurs am Sonntag ist sakrosankt, ob nun ein WM-Spiel läuft oder nicht, selbst wenn daran die potenziell famosen Holländer beteiligt sind. Die erste Halbzeit verbringe ich noch auf dem Crosstrainer vorm Bildschirm, es steht 1-0, doch während der zweiten Hälfte muss ich Crunches machen, Liegestützen und Schlimmeres.
Zu Hause habe ich daher vorsorglich den DVD-Rekorder programmiert, ich werde also nichts verpassen. Jetzt, nach dem Kurs, gilt es nur noch den Fitnessclub zu verlassen, ohne das Endergebnis mitzukriegen. Spannung ist schließlich alles. Doch auf dem Weg vom Rödingsmarkt zum Kiez steht mir ein Parcours bevor, der mir alles abverlangen wird.
Zunächst muss ich durchs Clubfoyer, wo ein riesiger Flachbildfernseher die WM überträgt. Ein ernstes Hindernis, zumal man den Ton zur Erbauung auch der hintersten Ecke durchaus übers Anstandmaß hinaus aufgedreht hat. Mit tief ins Gesicht gezogener Baseballmütze, den Zeigefingern in den Ohren und innerlich „Na-na-na-ne-na-nä!“ rufend, haste ich durch die audiovisuelle Todeszone und schaffe es wirklich hinaus auf die Straße, ohne das kleinste Infofitzelchen aufzuschnappen.
Keine Ahnung, was die Leute dabei über mich denken. Oder was Ms. Columbo denkt, die ich im Gefolge habe. Na gut, eigentlich weiß ich, was sie denkt, aber ich frage lieber nicht. Die U-Bahn ist safe, wie Agenten oder Irak-Marines wohl sagen würden. An der Reeperbahn aber droht Ungemach. Fast jedes Bistro im Millerntorhochhaus überträgt nämlich live und versucht mit Außenlautsprechern auf diesen Umstand aufmerksam zu machen. Wir müssen daran vorbei, und es besteht das hohe Risiko, durch einen herüberwehenden Sprachfetzen der Nachberichterstattung das Spielergebnis zu erfahren. Das verdürbe mir gründlich den Spätnachmittag.
Auf dem Platz vorm Hochhaus sehe ich schon von weitem eine Gruppe orangeleuchtender Holländer, wende aber sofort den Blick ab, um meine innerlich ratternde Interpretationsmaschine mit keinerlei Hinweisen auf ihre Stimmungslage und somit auf den möglichen Spielausgang zu füttern. Außerdem rufe ich unablässig lautlos „Na-na-na-ne-na-nä!“ in mich hinein. Es wirkt. Aber wie jetzt den Bistrospießrutenlauf unbeschadet überstehen?
Ms. Columbo, selbst im Kopfschütteln noch konstruktiv, schlägt den Weg hintenrum vor. Sofort stimme ich zu. Nur von einer Touristenfresshalle namens Die Scheune droht geringe Gefahr, doch wir kommen ungeschoren dran vorbei, hasten durch die Seilerstraße. Fahrig schließe ich die Haustür auf und rette mich in den Flur.
Ein feiner Schweißfilm bedeckt meine Stirn. Tief in meiner Brust aber glost neben dem Stolz auf die bestandene Bewährungsprobe auch die Vorfreude auf die zweite Halbzeit. Das Interessante am Fußball ist ja, dass man nicht weiß, wie’s ausgeht, und diesen Zustand der Unschuld habe ich mir mit einer logistischen Meisterleistung und einem eiskalten Profi an meiner Seite erhalten.
Erleichtert falle ich in den Sessel und starte die Aufnahme. Doch es passiert nichts mehr, kein Tor, kein Elfer, kein Platzverweis. Die erste Halbzeit, sie hätte vollkommen gereicht.
Aber das konnte ich ja schließlich nicht wissen, verdammt noch mal.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs übers Nichtwissenwollen
1. „Please don't tell me how the story ends“ von Kris Kristofferson
2. „I don't want to talk about it“ von Crazy Horse
3. „Don't tell and we won't ask“ von Thrice
(Das Foto hat nur einen indirekten Bezug: Es zeigt eine Tribüne auf dem WM-Fanfest von hinten. Die über den Rand ragenden Wikingerhelme fand ich lustig.)
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