Hamburg ist ein Hort der Seltsamkeiten. Menschen kaufen Baguettes und legen sie dann auf einer Randsteinecke ab. Andere kriegen die Krise in aller Öffentlichkeit oder schleppen sie zumindest mit dort hin.
Wie dieses merkwürdige Pärchen. Als ich es zuletzt sah (von unserem Balkon aus), dachte ich noch, es befände sich in einer Ausnahmesituation. Er, mit Schnauzbart und Militaryjacke, schrie sie zusammen wie von Sinnen. Seine Arme schlenkerten dabei gefährlich sensenartig durch die Luft, und sie stand da, die schwarzen Haare schludrig hochgesteckt, und hielt sich an der Hundeleine fest, an deren anderem Ende eine handtaschengroße Promenadenmischung geduldig auf die Fortsetzung des Gassigehens wartete.
Ab und zu versuchte sie etwas zu sagen, woraufhin er einfach den Wut- und Lautstärkepegel verdoppelte. Er umkreiste sie dabei wie ein hungriger Panther und schrie und schrie. Keine Ahnung, um was es ging, ich verstand praktisch nichts.
Mir kam die Beziehung der beiden jedenfalls recht asymetrisch vor. Auch die Qualität ihrer Konfliktbewältigungsstrategien schien mir steigerungsbedürftig. Doch ich hielt das, wie gesagt, für eine Ausnahmesituation.
Bis gestern morgen. Auf dem Weg zur Arbeit sah ich die beiden wieder. Gleiche Konstellation, sogar gleiches Outfit. Und die gleiche Schreierei, das gleiche Gefuchtel, und wieder starrte sie dumpf und hundgebunden auf den Gehweg, hub hie und da an zu einer Erklärung, einem Widerwort, was sein Brüllen aber nur steigerte bis an den Rand der Hyperventilation.
Ihre … Kommunikation scheint generell dergestalt abzulaufen. Offenbar brauchen sie einander genau so. Wie anders wäre die eingespielte Choreografie und die Dauerhaftigkeit dieses öffentlichen Krisenszenarios zu erklären? Auch er müsste doch eigentlich glücklicher sein mit einer Frau, die seine Drüsen eher zur Endorphin- als zur Adrenalinproduktion anregt. Denkt man zumindest als Außenstehender, aber was weiß ich schon.
Ich rubriziere die beiden schulterzuckend unter sanktpaulianische Exzentriker, und wie es der Zufall will, läuft mir gestern ein weiterer, auf ganz andere Weise merkwürdiger Mensch über den Weg, diesmal in Ottensen.
Er tritt aus einem Ladengeschäft auf die Straße, um sich eine Zigarette anzuzünden. Ungefähr Mitte 50, schlank, mit grauen, vollen Haaren und unauffälliger Brille. Er trägt ein legeres Freizeithemd, hat es allerdings in die Jeans gesteckt. Alles ganz normal. Gut, eine Nuance von Verwegenheit haftet ihm an, etwas leicht Udo-Kier-haftes. Doch dann fällt mein Blick auf seine Schuhe. Und ich weiß, dass ich erneut jemanden als urbanen Exzentriker rubrizieren muss.
Der graue, bebrillte Mittfünfziger, der hier gemütlich auf der Ottenser Hauptstraße eine Zigarette schmaucht, trägt … zehn Zentimeter hohe Highheels. Mit vergoldeten Absätzen.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit hohem Exzentrikgehalt
1. „This town ain’t big enough for both of us“ von Sparks
2. „Lola“ von The Kinks
3. „I fell in love with a dead boy“ von Antony & The Johnsons Labels: ottensen, st. pauli, typen, zeichen