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Die Rückseite der Reeperbahn

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Mein Foto
Name: Matthias Wagner
Standort: Hamburg, Germany

Schreiberling




26 Februar 2010

Der Sandalenbuddha

Im 112er-Bus auf der letzten Bank hinten links, wo ich immer gern sitze, weil ich dort den linken Fuß schön hochstellen und mich überhaupt recht bequem und breitbeinig hinfläzen kann, da sitzt schon einer. Ich setze mich daneben.

Augenblicks hüllt mich seine Dunstglocke ein. Es ist ein Mix aus dieses Jahr noch nicht geduscht und letztes Jahr auch nicht.

Aus dem Augenwinkel sehe ich seine struppigen langen, mit Grau durchwirkten Haare, die trägt er auf dem Kopf genauso wie vorne im Gesicht, seine Jacke hat Weltkriegspatina.

Den linken Fuß – das finde ich rührend vertraut – hat er schön hochgestellt, etwa so, wie ich es tun würde. Allerdings trage ich gemeinhin feste Schuhe, zumal im Winter, und seine fahlgelben Füße stecken barfuß in halb zerfallenen Sandalen.

Ein bemitleidenswertes Wesen, dessen Äußeres nicht mit der buddhaesken, ja geradezu sandalesken Ruhe in Einklang zu bringen ist, die es ausstrahlt. Doch der Mann strahlt noch mehr aus, und das kann meine Nase nun schlicht nicht mehr ertragen.

Ich setze mich zwei Reihen weiter nach vorne. An der Haltestelle Reeperbahn steigt ein großer Mann afrikanischer Provenienz zu, sein dicker Stoffmantel mit dem Riesenkragen wirkt edel. Zielsicher steuert er (natürlich) die Rückbank an, setzt sich – und steht zwei Sekunden später wieder auf, um mir gegenüber Platz zu nehmen, obwohl er jetzt rückwärts fahren muss. Ich schmunzle, aber natürlich weiß er nicht warum.

So sorgt der struppige ungeduschte Sandalenbuddha die ganze Zeit für Verkehr im Bus, obwohl er nichts weiter tut, als ganz hinten links schön den Fuß hochzustellen und ansonsten sinnierend aus dem Fenster in eine wenig verheißungsvolle Zukunft zu starren.

Seine Barfüßigkeit erinnert mich an den Frühling, und das ist doch ein recht schönes Gefühl.


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25 Februar 2010

Ohne Worte (71): Freiheit pur



Entdeckt an üblicher Stelle in der Simon-von-Utrecht-Straße.


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06 Februar 2010

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (22)



Entdeckt an der Reeperbahn


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03 Dezember 2009

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (15)



Alles schläft, einsam wacht …
Entdeckt in der Simon-von-Utrecht-Straße.

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20 November 2009

Das Kreuz mit dem X



„Nein, tut mir Leid“, sagt der Polizist auf der Davidwache zu dem streng riechenden Mann, der vor ihm am Tresen steht, „gegen Sie liegt kein Haftbefehl vor. Ich habe im Computer nachgeschaut.“

Kein ganz uncleverer Versuch. Gleichwohl kann sich der Duftbolzen die geplante Nacht in der warmen Zelle nun abschminken. Scheißcomputer.

Ersatzweise durfte er sich die Novembersonne auf den Pelz brennen lassen – und ein kapitales Kondensstreifenkreuz am Hamburger Himmel bewundern, das uns alle schon mal einzustimmen versuchte auf den Advent, ob wir nun ein Dach über dem Kopf haben oder nicht.

Vielleicht war es aber auch nur ein X
.

Foto: Ms. Columbo

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07 Oktober 2009

Auf der Reeperbahn morgens um 9

Bushaltestelle Davidwache an der Reeperbahn.

Der linke Arm des Schläfers rutscht immer wieder vom Oberschenkel, doch er wacht davon nicht auf. Zwischen seinen Beinen steht ein Tetrapack Sangria Il Tinto.

Eigentlich sollte eine Packung, auf der „Il Tinto“ steht, dunkelrot sein. Aber nein, sie ist gelb; homogenes Produktdesign sieht anders aus.

Der Bus hat Verspätung, elende Linie 37.

Der linke Arm des Schläfers rutscht wieder vom Oberschenkel. Er baumelt steif über der undefinierbaren eingetrockneten Lache. Im Dreiviertelschlaf wuchtet er den Arm wieder hoch.

Wo bleibt bloß der Bus? Im Sexshop hinterm Wartehäuschen gibt es kaum etwas Neues im Sortiment. Höchstens die knetbaren künstlichen Brüste.

Ein Mann mit Hund kommt und setzt sich neben den Schläfer auf die Bank. Umstandslos greift er nach dem Tetrapack Sangria Il Tinto, schraubt ihn auf, setzt ihn an die Lippen, säuft ihn leer und wirft ihn weg.

Dann steht er auf, geht zum Sexshopschaufenster und zündet sich eine Kippe an. Der Hund ist hinter ihm hergetrottet. Er schaut zu ihm auf.

Dann kommt der Bus, endlich.


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31 Juli 2009

Papierentsorgung auf Kiezianisch



Auf dem Kiez gibt es Menschen, die wühlen in Mülleimern. Ich weiß nicht, ob es die gleichen sind, die auch im Altpapier wühlen, doch auch solche gibt es.

Bevorzugt wühlen sie in unserem Altpapier, das wir hier auf dem Kiez in Ermangelung einer hauseigenen Tonne regelmäßig an die Straße stellen müssen. Vielleicht vermuten diese Menschen in unseren alten, vor allem mit Zeitungen und Snailmailspam aufgefüllten Weinkartons widersinnigerweise Wein, keine Ahnung.

Jedenfalls reißen sie regelmäßig heimlich – mutmaßlich im Schutz der Dunkelheit – unsere Kartons auf, und je verbissener ich diese verschnüre und verklebe, desto rabiater geht die Spezies der Altpapierkartonaufreißer vor. Ein Wettstreit geradezu darwinesken Zuschnitts.

Eigentlich sollte es uns zwar egal sein, ob in Osttimor einer seinen Pickel ausdrückt oder uns jemand die Altpapierkartons aufreißt. Doch es ist uns nicht egal. Es kommt uns nämlich vor wie eine Verletzung unserer Intimsphäre. Als stünde plötzlich ein olfaktorisch unzulänglicher Fremder im Flur und würfe unter wissendem „So, so“-Gebrumm einen Blick in unser Schlafzimmer.

Deshalb hatte Ms. Columbo die genialische Idee, unsere Altpapierkartons zu beschriften. Diese Aufgabe obliegt mir. Gestern beließ ich es erstmals nicht bei einem militärisch knappen „Altpapier!“, sondern griff präventiv ein mögliches Missverständnis auf, welches durch die Aufschrift „Blu-ray-Player“ auf dem Karton eventuell entstehen könnte.

Wobei ich plötzlich das unbestimmte Gefühl habe, dass bei Menschen, die in Mülleimern oder unserem Altpapier wühlen, ein Blu-ray-Spieler sowieso eher Missmut statt Wohlgefallen hervorriefe.


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23 Juli 2009

Wir fühlen uns vergrämt



Die Bushaltestellenbank an der Mö dient eventuell allem Möglichen, doch das wartende Sitzen gehört gewiss nicht dazu.

Man rutscht auf der gewölbten und glattgebohnerten Sitzfläche unablässig nach vorne und somit potenziell runter, und wenn man sich hinten stützend anlehnen will, behandelt die höchst abweisend konstruierte rohrförmige Strebe deinen Rücken, als wolle sie ihn wegen Ungehorsams züchtigen.

Hau ab! – das und nichts anderes ist die Botschaft dieser Bank.

Wie’s scheint, hat der HVV hier nur eins im Sinn gehabt: das öffentliche Möbel so zu designen, dass es sich keinesfalls als Niederlassung oder gar Nachtlager für Obdachlose anpreist.

Es handelt sich somit eindeutig um eine Pennervergrämungsbank. Leider auch um eine Kundenvergrämungsbank, wie Ms. Columbo und ich beim schmerzhaften Warten auf die 36 feststellen mussten.

Aber man muss halt Prioritäten setzen, das zieht sich durchs ganze Leben, auch durch das des HVV.


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14 März 2009

Die große Freiheit der Talstraße



Gegen 20.30 Uhr stehe ich beim Telefonieren in der Talstraße unversehens vor der Bar Freedom. Der Name spielt möglicherweise auf Dinge an, die in der Welt stinknormaler Missionarsstellungsbevorzuger Stirnrunzeln hervorrufen könnten.

Am Ohr habe ich die Stimme Ms. Columbos, im Auge die große Scheibe der Bar. Man sieht, wie sich drinnen die Riege der Animierdamen und -herren für den Einsatz rüstet, fürs friday night fever.

Eine mit Hornbrille und kläglich versagendem Pushup-BH trägt ein schwarzes Negligé. Sie sieht aus wie meine Tante vor 25 Jahren (die damals auch schon auf die 50 zuging) und kratzt sich mit der Hand, mit der sie nicht raucht, in der Poritze. Trotzdem kostet das Bier laut Aushang nur 3 Euro.

Jetzt tritt eine passable Blonde in Lederhotpants und Spaghettitop in die Kälte und rennt mich fast um. Wo will sie hin? Sie wird sich noch erkälten.

An Telefonieren ist inzwischen kaum noch zu denken, weil ein vollbärtiger Schrat mit halb offenem Hosenlatz mich umkreist und raubauzig vor sich hin ramentert. Als ich auflege, nimmt er das sogleich zum Anlass, mir Splitter seiner Weltsicht darzulegen.

„Ha, das Internet, hä?“, ruft er zusammenhanglos, vielleicht inspiriert von meinem Handy, „gar nicht nett, hehehe.“

Ich grinse schief, wie ich schemenhaft in der Scheibe der Bar Freedom erkennen kann, durch die mich die Poritzendame dumpf anstarrt. Die Blonde huscht zurück in die Bar; es ist Zeit, nach Hause zu radeln.

An der Simon-von-Utrecht-Straße liegt ein Mann schlafend auf einem Gitter, durch das warme Abluft hochsteigt. Er trägt Turnschuhe von Adidas.



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06 Januar 2009

Der Müllwühler

Menschen, die in Mülleimern wühlen, kann ich nicht ansehen. Es ist mir peinlich, ihnen die Peinlichkeit zuzumuten, beim Wühlen im Müll beobachtet zu werden. Wenn sie herschauen, schaue ich weg.

So ging es mir auch heute an der Haltestelle Friedensallee, wo ich gottergeben auf den sogenannten Schnellbus wartete. Ein Radler näherte sich über den Gehweg. Er trug zu üblicher Winterkleidung einen Wollschal, Handschuhe – und eine am Kopf befestigte Grubenlampe.

Die Lampe leuchtete. Der Mann stoppte und hielt sich am Mast der Fußgängerampel fest, ohne abzusteigen. Noch immer schaute ich nicht weg, denn er wirkte keinesfalls wie einer, der nun den Kopf senken und mit der Grubenlampe den am Mast befestigten Mülleimer ausleuchten würde.

Doch genau das tat er; seine Ausrüstung war dafür optimiert. Hier hatten wir einen Profimüllwühler. Schnell schaute ich weg; sein sportlich-bürgerliches Outfit und seine noch keineswegs fortgeschrittene Entwürdigung schienen das Peinlichkeitspotenzial der Situation zu verdoppeln.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er mit dem linken Arm tief im Schlund des Mülleimers herumfuhrwerkte. Irgendwann zog er eine Zeitung heraus. Und dann lehnte er sich gemütlich an den Ampelmast und studierte die wichtigsten Texte des Tages.

Keiner, der ihn nicht aus den Augenwinkeln beobachtet hätte, wäre in diesem Moment auf den Gedanken gekommen, es könnte sich um einen Müllwühler handeln. Dann steckte er die Zeitung ein und radelte weiter. 20 Meter weiter stand der nächste Mülleimer. Er hielt an.

Und dann senkte er wieder den Kopf. Ich schaute schnell weg.


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09 Dezember 2008

Höhere Münzologie

Früher, zu D-Mark-Zeiten, sagten die Bettler „Hassemannemakk?“. Seit der Währungsumstellung sagen sie „Hassema’neuro?“

Sofern sich die Spendierfreude der Angebettelten nicht halbiert hat, müsste sich das Einkommen von Bettlern also verdoppelt haben.

Bis auf Bankmanager (vor der Finanzkrise) kann das wohl keine andere Berufsgruppe von sich behaupten.



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20 Oktober 2008

Aufstieg und Fall des Pennerbären

Das obdachlose Pärchen an der Simon-von-Utrecht-Straße hatte Zuwachs bekommen: einen riesenhaften Plüschbären. Genauer gesagt den größten Plüschbären, den der Kiez je gesehen hat.

Insgesamt kam der Trumm circa auf einen Kubikmeter Volumen. Im gleichen Maße förderte er auch die Heimeligkeit dieser traditionell tristen Stelle an der Simon-von-Utrecht-Straße, die geprägt ist von einer großen Werbefläche in der Vertikalen und einem wärmespendenden Abluftgitter in der Horizontalen, wobei Letzteres für die Obdachlosen gewiss die Killerapplikation dieses Standortes liefert.

Der Riesenbär jedenfalls gab der Szenerie schlagartig eine rührende Pseudoidylle. Finanzkrise hin oder her: Hier unten, auf dem Abluftgitter an der Simon-von-Utrecht-Straße, konnte es eh nicht mehr schlimmer kommen, sondern nur besser, und dafür sorgte nun dieser Plüschbär unbekannter Herkunft.

Das musste fotografiert werden, so viel war mir schnell klar, schon aus Gründen der Sozialromantik. Also radelte ich hin, um das Trio um Erlaubnis zu bitten – und fand mich prompt in einer Warteschlange wieder.

Denn wer stand fotografierend vor dem Trio? Zwei Streifenpolizisten in gedecktem Schillblau. Er mit Handy, sie mit einem Lächeln und das Pärchen samt Bärchen entspannt posierend – ähnlich wie einst John Lennon und Yoko Ono beim Bed-in in New York City, nur ohne deren Bankkonto.

Ein Gefühl sagte mir gleich: So was gibt es nur auf dem Kiez. Woanders – sagen wir in Rostock-Lichtenhagen oder Castrop-Rauxel – hätten die Polizisten wohl eher auf sofortige Entsorgung des Plüschbärmonsters gedrungen, statt grinsend das Handy zu zücken.

Wie auch immer: Ich kam, sah und stellte mich hinten an. Als ich dran war, erhielt ich umstandslos die zweckgebundene Fotoerlaubnis. Mein Obolus in den hingestellten Porzellanteller war keineswegs Bedingung, doch hellte er die eh gelöste Stimmung zusätzlich auf.

Das ist erst ein paar Tage her. Danach sah ich den Bären noch einmal allein im Regen sitzen, mit Plastikplane überm Quadratschädel und aufgestecktem Regenschirm. Ein surreales Bild. Und jetzt ist er plötzlich ganz verschwunden, der Pennerbär von der Utrecht.

Alles ist wieder so, wie es dort immer war und immer sein muss, Finanzkrise hin oder her: sozial ziemlich unromantisch.



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04 Oktober 2008

Die Frage aller Fragen

Wahrscheinlich steht die Verpflichtung zu dieser Frage im Arbeitsvertrag sämtlicher Pennyverkäufer. Wer bei Penny an der Kasse sitzt, muss sie stellen, unabhängig vom Wert des Einkaufs oder der Reputation des Kunden.

Jeder vollendete Bezahlvorgang muss mit dieser Frage abgeschlossen werden, sonst Abmahnung. So weit, so gut. Als aber heute die Pennyverkäuferin dem Obdachlosen, der lediglich einen Tetrapak billigsten Rotweins aufs Band gelegt hatte, die in ihrem Arbeitsvertrag festgelegte Frage stellte, wurde das Surreale dieser Vorschrift doch sehr evident.

Sie blickte hoch zu dem Obdachlosen, der nach seinem Tetrapak griff, und fragte sie, die Frage aller Fragen.

Sie lautet: „Kassenbon?“

Der Mann schüttelte Kopf und Bart und ging hinaus. Genau wie ich wenig später, mit der gleichen Frage als Echo zwischen den Ohren – und vier Frühstücksbrötchen in der Tasche.

Vielleicht sollte man ihn sich wirklich mal geben lassen, den Kassenbon, und nachmittags mit einem angebissenen Brötchen wiederkommen: „Sorry, das war nicht gut, ich möchte es umtauschen, hier ist der Kassenbon.“

Eventuell nächsten Sonntag.



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29 September 2008

Zurück im echten Leben

Der blonde obdachlose Russe vor Budni an der Simon-von-Utrecht-Straße hat den rechten Arm komplett in Gips, zur Entschädigung aber auch neuerdings eine dunkelhäutige Obdachlose im Schlafsack.

Vor unserem Hauseingang hinterließ wieder mal jemand einen Haufen, und der Jemand war allem Anschein nach kein Hund.

An der Bushaltestelle Davidstraße ist eine riesige Pfütze strahlenförmig eingetrocknet, von der ich keinesfalls Quelle und chemische Zusammensetzung erfahren möchte, und auf das Halteverbotsschild am Millerntorplatz hat jemand einen „Na toll“-Sticker gepappt.

Kurz, wir haben Skagerrak und Kattegat wieder gegen den Kiez eingetauscht. Und verdammt: Wir lieben es!



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17 August 2008

Sommer auf dem Kiez


Reeperbahn


Talstraße


Simon-von-Utrecht-Straße


Seilerstraße

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11 Juni 2008

Frauen: Bitte nicht lesen!



Wahrscheinlich stehe ich eh im Ruf, eine Spur zu oft über Obdachlose und Herrentoiletten zu schreiben. Also ist es auch egal, wenn das heute schon wieder passiert, sogar en bloc.

Der Franke und ich sitzen auf dem Alma-Wartenberg-Platz vorm Türkenbistro, das einen Flachbildfernseher zum Fußballgucken aufgestellt hat. Es gibt technische Probleme. Drei Bistromitarbeiter tüfteln am TV herum, um das Erste reinzukriegen, wo das EM-Spiel Spanien-Russland übertragen wird.

Es will nicht klappen. ZDF, NDR, RTL: alles prima, aber wo ist das Erste? Wir ordern schon mal je ein Bier, denn Optimismus ist unser zweiter Vorname.

Plötzlich tritt einer der Obdachlosen heran, die das ganze Jahr über auf dem Platz lagern. Manchmal spielen sie Fußball, dann kriegen sie Ärger mit der Gastronomie. Manchmal prügeln sie sich, dann kriegen sie Ärger mit der Polizei. Immer aber betteln sie und beschleunigen damit den Schritt der Passanten.

Heute jedoch beschwert sich einer. Und zwar über das fehlende Fernsehbild zur Fußballübertragung. Eine Dreistigkeit, die mir Respekt abnötigt. Nicht aber dem Bistrobesitzer, der dem erregten zahnarmen Späthippie schließlich mit einem probaten Stilmittel der körperlichen Gewalt (Schubsen) unmissverständlich bedeutet, sich gefälligst zu trollen.

Geduldet werden hier halt nur Konsumenten von Bier und/oder Döner, und da kann der Hippie nicht mithalten. Weil uns zu kalt ist, wechseln wir in der Halbzeit in die „Bar“ um die Ecke. Dort ist es mollig, das Bier sogar billiger, und Obdachlose trauen sich nicht hinein, selbst nicht zum Beschweren.

Auf dem Klo entdecke ich den abgebildeten fußballaffinen Einsatz im Pissoir und frage mich ernsthaft, was Frauen wohl von uns Männern dächten, wenn sie wüssten, wie großartig wir es finden, mit unserem naturgegebenen kraftvollen Strahl einen Ball in ein Tor zu dirigieren.

Gut, ich weiß schon, was Frauen darüber dächten. Doch zum Glück werden sie dank des Titels dieses Beitrags von unserer Marotte nie erfahren.


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04 Juni 2008

Keine Rosen

Tagsüber, zumal in greller Sonne, haben die Seitenstraßen des Rotlichtviertels etwas Narkoleptisches.

Nichts erinnert an die Ausgelassenheit der Nacht. Doch alles dämmert ihr entgegen, auch der schlecht frisierte Herr auf der Treppe des Albers-Ecks.

Blau umrahmt liegt er völlig blau da, mit vollgepisster Hose. Eine kleine aus ihm herausgelaufene Lache hat bereits vorwitzig die Erkundung der mittleren Stufe begonnen, doch sie wird längst eingetrocknet sein, wenn das Albers-Eck abends versucht, seine Pforte zu öffnen.

Momentan wäre das schlecht möglich, denn die Tür geht nach außen auf, und dort liegt barriereartig der undichte Herr.

Über ihm an der Scheibe hängt ein Zettel. Er sagt mit drei Ausrufezeichen: „Keine Rosenverkäufer!!!“

Doch der Schläfer kann beruhigt sein. Er hat nichts zu verkaufen, erst recht keine Rosen.

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30 Mai 2008

Die falsch investierten 2 Euro

Am hie und da von Vandalen heimgesuchten Gleis 13 ist heute ein friedlicher Bettler unterwegs. Zwei südländisch aussehende Nonnen – vielleicht aus Griechenland oder Portugal – stehen am Bahnsteig; die visiert der Bettler jetzt an.

Nonnen sind eine todsichere Sache, wegen Franz von Assisi, Nächstenliebe, linker Wange, rechter Wange und all dem Kram. Er schlurft also hin und bettelt um ein paar Cent.

Doch zu unser aller Überraschung wenden die Nonnen sich ab, täuschen ein inniges Gespräch vor – sind somit auch nicht besser als ich. Ein befriedigendes Gefühl, das mich beinah zu einer nachträglichen Spende an den Bettler animiert hätte, und zwar aus einem Gefühl heraus, das entfernt mit Boshaftigkeit verwandt ist.

Doch am Hauptbahnhof Bettlern etwas zuzustecken ist risikobehaftet. Ich gab mal einem mutmaßlichen Junkie, der mir zunächst auf ein-, dann zudringliche Weise die alte Geschichte von 2 fehlenden Euro für Heimfahrt/Mittagessen/Übernachtung erzählte, 2 Euro, und zwar vor allem, um ihn loszuwerden.

Allerdings war genau das der Fehler. Meine Spende nämlich weckte in ihm eine ungeheure Gier nach Aufstockung derselben. Hier glaubte er seine Melkkuh schlechthin gefunden zu haben, und das konnte ich ihm nicht mal verdenken – wer gibt schon 2 Euro?!

Der mutmaßliche Junkie erwies sich in der Folge jedenfalls als unablässig plappernder Klammeraffe, der mir hunderte Meter weit nicht von der Seite wich und mich mit Wortkaskaden überschüttete, die alle darauf hinausliefen, dass gleichsam sein Leben von weiteren 2/5/10 Euro abhinge.

Es war nicht leicht, dem Mann verständlich zu erläutern, wie generös ich mich bereits jetzt fühlte und wie wenig eine weitere Steigerung dieses Gefühls meiner mentalen Verfassung zuträglich sei. Im Grunde waren nur mein guter Trainingszustand und der pure Stoizismus des Weitergehens für mein erfolgreiches Entkommen verantwortlich.

Ein lehrreicher Tag. Selbst Bettler, die vorher bei griechischen oder portugiesischen Nonnen abgeblitzt sind, haben es seither höllenschwer bei mir.


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04 Mai 2008

Schnauze!



Ms. Columbo und ich überqueren dort, wo die Reeperbahn in die Königstraße übergeht, schwatzend den Fußgängerüberweg. Uns kommt ein heillos verdreckter Graubartzausel entgegen.

Als wir uns begegnen, sagt er zu mir: „Halt die Schnauze!“


Eine ungebührliche und zudem vollkommen grundlose Frechheit, die zwar möglicherweise einem prekären Schicksal geschuldet ist, der aber ein Mann von Welt gleichwohl mit schneidender Eloquenz entgegenzutreten verpflichtet ist.

Mehr noch: Gefragt ist nun die überlegene Kraft des rhetorischen Floretts, eine abgeklärte Kühle, die den ungehobelten Widerpart seinen Fauxpas nicht nur bitterlich bereuen, sondern eine Wiederholung desselben ein für alle Mal verunmöglichen wird.

Und noch während mir all diese Handlungsoptionen durch den Kopf gehen sollten, höre ich mich schreien: „HALT DU DOCH DIE SCHNAUZE!“

Soviel zum Unterschied zwischen Theorie und Praxis.

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27 April 2008

Sie hat ja kein Handy

Unter der Plakatwand an der Simon-von-Utrecht-Straße lagert regelmäßig eine Gruppe heimatloser Russen. Einer von ihnen liegt langgestreckt auf dem Gehweg in seinem Blut und rührt sich nicht. Eine Passantin mit Zahnlücke und unvorteilhafter gelber Jacke steht dabei. Ich halte an und frage: „Hat schon jemand Hilfe gerufen?“

Sofort umringen mich zwei Russen und bedeuten mir, dies sei noch nicht geschehen. Ich zücke mein Handy. Die Passantin sagt: „Ich finde es gut, dass Sie anrufen. Ich habe ja kein Handy.” Ich wähle 110. Was falsch ist. 112 wäre richtig: die Feuerwehr. Das für alle, die dies lesen und in eine ähnliche Situation geraten. Die Polizei stellt mich durch zur 112. Ich schildere die Lage.

„Atmet der Mann?”, fragt mich eine männliche Stimme.
„Kann ich nicht sagen.”
„Versuchen Sie es festzustellen.”
Ich beuge mich über den reglosen Mann, der mit dem Gesicht in seinem Blut liegt, und stupse ihn leicht an. An der Schulter. Ein flatterndes Blinzeln ist die Folge. Nicht tot: Das ist gut.

„Er blinzelt”, sage ich.
„Atmet er?”
„Hören Sie, wenn er blinzelt, atmet er ja wohl auch.”
„Atmet er normal?”
„Das weiß ich nicht! Warum kommen Sie nicht einfach?”
„Weil ich hier ein Abfrageprotokoll habe, das ich ausfüllen muss.”
Klar, muss er wohl, aber ich zittere vor Aufregung und allmählich auch vor Ärger.

Das Stupsen zeigt Wirkung. Ächzend setzt der Verletzte sich auf. Eine Schliere aus Blut und Schleim hängt ihm zentimeterlang aus der Nase, reißt ab und suppt lautlos auf den Gehweg, wo sie die Lache vergrößert. Sein Kopf sieht aus, als spielte er in „Hostel“ mit, als Opfer. Die Russen um uns herum schimpfen und zetern. Sie brüllen auf ihn ein. Auf Russisch.

„Er hat sich hingesetzt”, informiere ich die 112-Stimme, „das heißt ja wohl, er atmet normal.”
„Bleiben Sie dort und versorgen Sie ihn. Wir kommen.”
„Gut, ich bleibe hier.”

Die Versorgung garantiere ich lieber nicht, doch es ist vielleicht der falsche Zeitpunkt, das zu thematisieren. Ich klappe das Handy zu. „Ich finde es gut, dass Sie angerufen habe“, sagt die Passantin ihren Text auf, „ich habe ja kein Handy. Kommen die?” Ich nicke.

Dann erzählt sie von ihrem epileptischen Nachbarn und davon, dass die Notrufhotline auch mit ihr jedesmal neu das Abfrageprotokoll durchgeht, ehe sie Ärzte losschickt, selbst beim zwölften Anfall. „Ich finde es gut, dass Sie angerufen haben. Ich habe ja kein Handy.”

Zehn Meter weiter ist eine Drogerie, dort hätte sie ja mal Bescheid sagen können, denke ich. Aber ich will hier keine neue Front aufmachen. Dann kommen die Notärzte.

Sie ziehen sich Gummihandschuhe über und nehmen den Mann mit ins Krankenhaus, während sein Blut in der Sonne zu trocknen beginnt.

PS: Das Foto stammt vom Spielbudenplatz, erinnert aber sehr an die geschilderte Szenerie.


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10 November 2007

Nur keine Hemmungen



Tagtäglich verschlägt es mich berufsbedingt in die Zeisehallen, und ebenso oft streift mein Blick ein Gitterkonstrukt, welches hier als schwarzes Brett fungiert.

Die an dünnen Metallstreben befestigten Aushänge flattern und fleddern schon nach kurzer Zeit zerzaust vor sich hin. Es sei denn, sie sind ganz frisch, wie der abgebildete. Ein wirklich erstaunlicher Aushang. Sowohl sein Zielpublikum als auch die dahinter sich verbergende Lehre sind mir zwar völlig schleierhaft. Dennoch begann ich innerlich zu juchzen und zu jauchzen, und alles nur wegen des Textes zum Tryptichon.

Kein einziger Deppenbindestrich, trotz der prachtvoll entwickelten Komposita! Wo findet man das heutzutage noch? Ich erwog, meine Begeisterung in eine spontane Schüttelanwendung münden zu lassen, merkte aber, dass dies mit Hilfe einer Enthemmungsmusikrassel erheblich einfacher zu bewerkstelligen wäre. Doch ich hatte zufällig keine zur Hand.

Und der Obdachlose mit dem hygienisch bedenklichen Dreijahresbart, der immer hinterm Gitterzaun sitzt und mich täglich fragt, ob er mich malen dürfe, hatte nicht einmal ein geeignetes Ansprechpartnergesicht zu bieten. Im Gegenteil.

Noch Stunden danach beschäftigte mich der Zettel. Welche speziellen Hemmungen soll die Enthemmungsmusikrassel nach dem Willen des Zettelaufhängers überhaupt lösen? Eine Frage, die mich einfach nicht mehr loslässt.

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19 Mai 2007

Das Beste draus machen

Als Obdachloser wäre ich völlig fehlbesetzt. Die üblichen Annehmlichkeiten des Behaustseins (Dusche, Balkon, WLAN) scheinen mir gänzlich unverzichtbar.

Vor allem bekäme ich schlicht keinen Schlaf, da unsere Federkernmatraze meine Schlummerfähigkeit praktisch komplett monopolisiert hat. Selbst Hotelbetten vermögen es selten, mir ein Ambiente zu bieten, das Morpheus wohlgefällig wäre; ein Campingurlaub ist unter diesen Umständen natürlich erst recht undenkbar.

Nein, draußen auf der Straße fände ich keine Sekunde Schlaf, was mir tagsüber beim Betteln wohl viel Überzeugungskraft nähme.

Auf St. Pauli begegnen mir dagegen jeden Tag bockelharte Cracks, die im Gegensatz zu mir nicht mal komatös sein müssen, um stundenlang regungslos auf Betonmauern, Abluftgittern oder Gehwegplatten herzumzuliegen.

Und manchmal – wie der, den ich heute an der Simon-von-Utrecht-Straße unter einer Werbewand vorfand – tun sie das sogar an symbolträchtigen Stellen.

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04 Mai 2007

Die Verrückte

Heute sah ich sie wieder, die Verrückte. Sie irrt oft durch St. Pauli, manchmal trifft man sie auch in der U-Bahn.

Es handelt sich um ein hageres, sozial enthemmtes, oft sturzbesoffenes Wesen mit Kurzhaarschnitt und Männerklamotten, das äußerlich an Martin Semmelrogge erinnert. Unablässig spricht es Leute an und bestreitet diese ausnahmslos einseitige Kommunikation mit den wirrsten Inhalten.

Meist handelt es sich dabei um Beleidigungen, oft aber auch um räsonierende Weltbetrachtungen, wobei die dazugehörige Welt erst noch erfunden werden muss. Das Erstaunlichste dabei ist die Mimik dieser Frau: Sie würde reichen für eine Schauspielkarriere.


Die Verrückte vermag nämlich jeden einzelnen Gesichtsmuskel beliebig zu bewegen. Zwischen den Verzerrungen der Wut und aasigem Grinsen vergeht keine Nanosekunde, und schon in der nächsten ist ihre in jede denkbare Richtung verbiegbare Gesichtstopografie bei Abscheu und Verachtung angelangt.

Welch ein Talent! Und welch eine tragische Verschwendung davon. Denn ihr Gehirn, das all diese Möglichkeiten steuert, schießt seine Befehle wahllos ab auf die Nervenenden und Muskelfasern, und deshalb läuft die Frau durch St. Pauli und gilt als verrückt.

Ihr Geschlecht übrigens war mir nie völlig klar, bis heute morgen. Sie stand hüftabwärts nackt und breitbeinig vor World of Sex auf der Reeperbahn neben einem Müllcontainer, ihre Männerhose hatte sie ausgezogen, und sie ließ sich die Pisse zwischen die Füße pladdern, während sie einem verstörten Passanten, der einen Bogen um sie schlug, auf Hamburgisch über einen unverständlichen Sachverhalt informierte: „Das war ein Fransosee!“, schnarrte sie.

Seit heute also kann ich das Geschlecht der Verrückten genauer bestimmen. Ich verzichtete auf ein Foto ihrer Rückseite (stattdessen die Satellitenperspektive), das problemlos möglich gewesen wäre, und schlug einen großen Bogen um sie. Als ich an der Bushaltestelle stand, sah ich sie die Davidwache betreten. Arme Bullen.


Dann kam ein Cockerspaniel vorbei und pinkelte neben mir an einen Stromkasten.

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15 Januar 2007

Das Richtige ist das Falsche

Sich auf St. Pauli ethisch einwandfrei zu verhalten, ist nicht einfach. Sogar unmöglich. Zwei Beispiele.

An der Reeperbahn Höhe Hamburger Berg sehe ich einen gutsituierten Passanten mit typischem Accessoire, nämlich einer Pulle Bier. Es handelt sich um eine Pfandflasche, sie ist leer, und er bietet sie netterweise einem gerade vorbeischlurfenden Prekarier an.

Gute Sache. Eigentlich.

Der Berber nimmt die Buddel wortlos, geht zum nächstbesten Mülleimer, legt sie hinein, pflügt dann den Abfall sorgsam um, findet nichts, lässt die Pfandflasche drin und schlurft weiter.

Zur Klarstellung: Kaum etwas ist erschütternder, als Menschen im Müll wühlen zu sehen; gerade diese öffentlich demonstrierte Würdelosigkeit gibt eine Ahnung von der Brutalität ihrer Verarmung. Dass aber nun dieser Mülleimerwühler die Pfandflasche darin liegen lässt, verwirrt mich zutiefst. Das passt nicht zusammen.

Oder beweist dies eine Art Restwürde, nach dem Motto: Ich habe auch meinen Stolz und lasse mich nicht mit einer Pfandflasche abspeisen? Jedenfalls misslang der Versuch des Passanten, ein kleines gutes Werk zu tun und sich ethisch korrekt zu verhalten.

Wenig später misslingt es auch u. a. mir. Ich stehe mit einigen anderen an der roten Fußgängerampel Reeperbahn/Hein-Hoyer-Straße, betrachte sinnierend die Grafittiwand gegenüber und warte geduldig – nicht etwa wegen des Ampelmännchens, wie ich für die anderen einfach mal mit annehme, denn in Hamburg geht man natürlich über jede Straße, wenn dies gefahrlos möglich ist.

Nein, wir bleiben stehen wegen des etwa vierjährigen Kindes, das mit uns wartet und von einem jungen Elternpaar an den Händen gehalten wird. Plötzlich aber geht das Paar los, bei Rot und mit dem Kind in der Mitte. Und wir bleiben belämmert zurück, gehüllt in die Lächerlichkeit einer kümmerlichen und nutzlosen Ethik.

Verdammt, wieso glaube ich eigentlich immer wieder, ein richtiges Leben im falschen sei doch möglich?

Vorsatz für 2007: Keine Pfandflaschen an Penner verschenken – und nicht mehr versuchen, anderer Leute Kinder zu erziehen.

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01 Januar 2007

Das muss noch besser werden

Auf der Silvesterfeier thematisiert M. meine Anwesenheit. Man könne sich ja gar nicht mehr unbefangen verhalten, wenn ein Blogger da sei. Mehrfach kommt er darauf zurück, und ich gewinne schließlich den Eindruck, er möchte gern mal verbloggt werden.

Hiermit passiert.

P. erzählt, wie er alljährlich über die Aftershowparty der Berliner Echo-Verleihung marodiert und promifeindliche Streiche ausheckt. Seine überfallartige Schwitzkastentechnik soll vor allem Dieter Bohlen in unschöner Erinnerung haben. Und sein aus dem Hinterhalt inszeniertes Haareverwuscheln kommt bei Feldbusch & Co. auch nie toll an.

Auf unserer Silvesterparty aber spielen derlei Kindereien keine Rolle. Dafür andere. Einige Anwesende, allen voran die vielköpfig vertretenen Thais, frönen einem typischen Vergnügen des 21. Jahrhunderts: sich gegenseitig beim Fotografieren zu fotografieren.

Ich auch.

Nachts auf dem Heimweg begegnet uns an der für ihr zooartiges Ensemble sowieso berüchtigten S-Bahnstation Reeperbahn ein Menschenschlag, den Ms. Columbo kurz und korrekt als „Mischung aus ,Children of men’ und ,Das fünfte Element’“ bezeichnet, allerdings nicht in Hörweite.

Am Neujahrsnachmittag missvergnüge ich mich im Fitnessclub. Hier das Mängelstakkato: kein Klopapier, Geräte kaputt, Sauna kalt, Duschen defekt, keine Seife mehr da. Heroisch beherrscht gehe ich zum Tresen.


„Ich möchte mich beschweren“, sage ich, „haben Sie Stift und Zettel parat?“
„Das kann ich mir merken“, sagt die Frau.
„Da wäre ich mir nicht so sicher“, sage ich.
„So viel?“ fragt sie bang.
„Holen Sie bitte Stift und Zettel.“

Und sie tut’s. Wenigstens das klappt. Abends Terry Gilliams bizarrer Filmtrip „Fear and loathing in Las Vegas“ auf DVD: genau die richtige Droge, nach diesem Tag.

Jetzt muss es sich noch ein wenig steigern, das Jahr 2007.

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11 September 2006

Der Ohrpopler

Alkoholismus ist mit Sicherheit auf St. Pauli verbreiteter als – sagen wir – in Altötting. Als Bewohner gewöhnt man sich an Kollateralschäden dieses Phänomens recht schnell, und über die am Sonntagmorgen ubiquitär herumliegenden Schnapsleichen steigt man routiniert hinweg. Keine von ihnen ist wirklich tot, und wenn, dann soll es bitte ein anderer merken; ich habe mich zu oft blamiert beim panischen Herbeirufen von Ordnungs- oder Rettungskräften, die es aber zum Glück bei mitleidigen Blicken beließen, statt über Regressforderungen nachzudenken.

Nein, wer sich gelähmt vom Suff gar nicht mehr bewegen kann, ist auf St. Pauli das kleinere Problem. Ein kaum größeres war jener Mann, der vorm U-Bahnhof St. Pauli (nicht fern von der abgebildeten Taubenstraße) mein Freund werden wollte. Er war vielleicht Mitte 50 und kein Zufallsbetrunkener wie viele der Partyterroristen, die uns allwochenendlich heimsuchen wie Wespenschwärme eine Freiluftausstellung von Sahnetorten. Aber er war auch kein Obdachloser, dazu war er nicht schmutzig genug.

Er war irgendetwas dazwischen, eine kleine grauhaarige Gestalt mit schroffen Furchen im Gesicht und abgetragenen Jeans. Früher oder später wird sich unerbittlich entscheiden, in welche Richtung das Pendel seines Lebens ausschlägt. „Prekär“ nennt man heutzutage wohl eine solche Situation.

Sein linkes Auge war blind; es sah aus, als hätte ihm jemand Kondensmilch in den Augapfel injiziert. Er schwenkte eine Flasche Astra, morgens um 9 an der Haltestelle, und die Afrikanerin, die mit ihrem Kinderwagen neben mir auf den Bus wartete, entfernte sich wortlos zwei Meter, als er wankend versuchte, ihr Baby auf eine Weise anzustammeln, die er in einem früheren Leben wohl als onkelhaft kennengelernt hatte.

Ich entschloss mich, ihn von Mutter und Kind fernzuhalten, sofern er die Verfolgung aufnehmen sollte. Doch das war unnötig, denn er wandte sich sowieso mir zu, mit einem irrlichternden Grinsen, das aussah nach dem verzweifelten Glück des Betrunkenen. „Was hörsten da?“, fragte er mit Blick auf meine Ohrhörer. „George Michael“, sagte ich. „Komm“, fuchtelte er mit seiner freien, astrafreien Rechten vor meinem Gesicht herum, „lass ma hörn!“

Er machte eine Bewegung Richtung Ohrhörer, als wollte er ihn mir vom Kopf nehmen und sich anschließend einführen, doch ich wehrte ab. „Ah“, machte er, und sein funktionierendes Auge weitete sich ein wenig, „ich verstehe!“

Dann steckte er sich seinen schrundigen Zeigefinger tief ins rechte Ohr, drehte, grub und bohrte darin herum, holte Unsagbares heraus, wischte dann den Finger mit großer Geste ab an seiner Jeans, die aussah, als hätte sie solches schon oft erdulden müssen – und glaubte, nun sei die Sache geregelt, nun dürfe er George Michael hören.

Ich musste ihn enttäuschen, und dann kam auch schon der Bus.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs übers Saufen
1. „The piano has been drinkin’“ von Tom Waits
2. „One bourbon, one scotch, one beer“ von John Lee Hooker
3. „Drunk“ von Vic Chesnutt

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31 Dezember 2005

Die Weinspende

Wir haben noch vier Flaschen 1999er Syrbec übrig. Der Rotwein, obzwar beileibe keine Plörre, gehört nicht zu unseren Favoriten. Zu säurebetont, ein wenig zu streng. Eine Flasche aus dem Sechserkarton haben wir getrunken und dabei die Mängel lokalisiert. Eine zweite bekam kürzlicher Besuch in die Hand gedrückt („Vielleicht schmeckt er euch ja!“). Die restlichen vier sollen heute verschenkt werden. Und zwar an Reeperbahnbettler.

Vor der Sparkasse sehe ich zwei erste Kandidaten. Der eine hilft dem anderen gerade beim Aufstehen, was nur mühsam vonstatten gehen will. Der Gehweg ist verschneit und glatt, und sie sind nicht gerade die Drahtigsten. Beide ächzen. Und die ganze Zeit wird traulich geplaudert. Ich wage nicht zu stören und hebe mir das Paar für den Rückweg auf. Falls dann noch Flaschen übrig sind. Wenn nicht: Pech für sie.


Nächste Station: Hamburger Berg. Sonst ist diese kleine Schmuddelecke am Kasino eine sichere Bettlerbank, heute aber silvesterlich verwaist. Also steige ich hinab in die S-Bahn-Station, wo die Erfolgsquote normalerweise hoch ist, wie bereits im Oktober einmal thematisiert. Doch auch hier niemand, der in Frage käme. Vor der Discothek La Rocca: keine Bettler. Aber der Eingangsbereich zum Fotografieren schön.


Bei manchem Passanten gibt es immerhin eine gewisse Schnittmenge zu Insignien des Bettlertums. Zum Beispiel diese leicht verlottert wirkenden jungen Bartstoppelträger mit ihren halbvollen Bierflaschen, die sie ungerührt mit bloßen Händen durch die Minusgrade tragen. Aber sie scheinen sich nur einzugrooven für den großen Knall heute Nacht. Unten an den Landungsbrücken werden sie sich wahrscheinlich die Kante geben. Vielleicht bringt sie das letztlich der Obdachlosigkeit näher, als sie jetzt einzusehen bereit wären, doch noch ist es nicht soweit. Nein, sie sind keine Weinkandidaten. Sie haben ja ihr Bier.


Aber dieser offenbar nicht unter Termindruck stehende Mann jenseits der besten Jahre an der Fußgängerampel Talstraße, dessen ebenfalls halbvolle Pilsbuddel neben ihm im Schnee steht? Hm. Soll ich ihn wirklich ansprechen, ihm Wein for free offerieren, ohne mir seines Obdachlosentums sicher sein zu können? Zu Recht könnte er meine Avance als beleidigend empfinden; und möglicherweise würde er dieser Verletzung seiner Gefühle sehr nachhaltig entgegentreten wollen.


Das möchte ich nicht. Also trage ich meinen Wein weiter, gehe die Reeperbahn in östlicher Richtung zurück. Doch keine Bettler, nirgends. Selbst die zwei Ächzer vor der Haspa sind inzwischen verschwunden. Auch vorm Steakhaus: nur Passanten, aber nicht die erhofften Punks mit ihren Hunden. Wahrscheinlich zieht es sie zwischen den Jahren doch wieder heim zu Mutti, um der alten Zeiten willen.


Ich erreiche das Ende der Reeperbahn, den Millerntorplatz. Letzte Chance U-Bahn-Eingang. Et voilà: Da ist er, mein Weinabnehmer. Es handelt sich um einen jener Hoffnungslosen, die alle Sprüche schon weggesagt haben. Jetzt steht er stumm und illusionslos da und wackelt müde mit seinem Plastikbecher. Kleingeld rasselt darin; das muss reichen als Verdeutlichung seines Anliegens.


Ein Bekannter von mir gibt übrigens niemals etwas bedingungslos. Er spendet stets zweckgebunden und möchte vom Bettler die verbale Zusicherung, mithilfe dieses Obolus’ ein warmes Essen zu erwerben und nicht Alkoholika oder Schlimmeres. Dieses moralische Almosengeben ist mir zuwider. Wenn ich schon etwas rausrücke, dann soll der Empfänger es auch nach Gutdünken verwenden. Warum sollte er sich damit sein Elend nicht sporadisch schöntrinken oder -fixen dürfen? Ein erhobener Zeigefinger ändert die Welt nicht.


Aber zwei Fläschchen Wein –
vier scheinen mir zu viele für einen – können sie ändern, wenigstens für eine Weile. Der Mann mit dem rasselnden Kleingeld im Becher ist noch jung, vielleicht Ende 30. Doch seine Haare sind fahl und verstruppt, über lückenhaften Zahnreihen und einer leichten Hasenscharte wuchert ein verwahrloster Seehundschnauzer. Und an seinen Fingerknöcheln wachsen dicke milchige Blasen oder Geschwüre.

Er rasselt mich stumm an. „Darf ich Ihnen zwei Flaschen Wein schenken?“, frage ich und öffne die Tüte. Er schaut hinein und sagt zögernd: „ … Ja?“ Bitte schön, sage ich und reiche sie ihm. Danke, sagt er. „Haben Sie einen Korkenzieher?“, frage ich. Für alle Fälle führe ich einen als verschenkbares Zubehör mit. Aber er ist versorgt, und ich verabschiede mich.


Eine prosaische Begegnung. Aber letztlich erfolgreich im Sinne der Anklage.

Bleiben noch zwei Flaschen. Vielleicht werde ich sie morgen los – wenn sie wieder zurückkommen, die Reeperbahnbettler. Es hört sich zynisch an, aber: Ich würde sie vermissen.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Bird gherl“ von Antony & The Johnsons, „In the ghetto“ von Candi Staton und „Tonight“ von Iggy Pop.


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12 November 2005

Die Bettlerin

An der Station Reeperbahn steigt eine recht gepflegt wirkende Bettlerin mittleren Alters zu. In der linken Hand hält sie einen Plastikbecher, die rechte führt eine Krücke, mit der sie offenbar ihrem Anliegen Nachdruck verleihen und die allgemeine Spendenbereitschaft im Waggon heben will. Von einer großen Beeinträchtigung ihrer Mobilität ist indes nichts zu bemerken.

Sie geht
zügig von Sitz zu Sitz, murmelt ihre Bitte, erntet Kopfschütteln, geht weiter. Auch ich habe mich innerlich schon darauf eingestellt, ihr mit mimischen Mitteln unmissverständlich zu verdeutlichen, dass bei mir heute nichts zu holen ist.

Doch die Frau geht einfach blicklos an mir vorbei.
Ich bin verblüfft, ja geradezu düpiert. Alle im Wagen hat sie gefragt, nur mich nicht.

Mein interner Stimmungsseismograf misst sogar eine leicht aufschäumende Empörung. Bin ich etwa nicht anbettelbar? Und wenn nicht, warum nicht? Habe ich zu früh die Bettlerabwehrmiene aufgesetzt? Liegt es an meinen Kopfhörern, die der Frau von vorneherein mein momentanes hermetisches Monadentum signalisieren? (Aber auch andere im Wagen sind abgestöpselt und ihr nicht entgangen.) Oder sehe ich selber pleite aus? Hm, meine Lands-End-Jacke und die schwarzen Clarks-Lederslipper senden eigentlich eher gegenteilige Signale aus.


Warum also? Das beschäftigt mich den ganzen Nachmittag. Noch immer irritiert, befrage ich zu Hause Ms. Columbo. Sie bestätigt mir jedoch, mich in einer vergleichbaren Situation ggflls. sofort und bedingungslos angebettelt zu haben.
Irgendwie beruhigend.

Das Foto zeigt eine Wandlampe im El Dorado, wo der gestrige Tag ausklang.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „6 feet snow“ von Souled American, „Dakota“ von den Cowboy Junkies und „Anywhere I lay my head“ von Tom Waits.


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05 November 2005

Die Würdelosen

Mein Eintrag „Die Bauwut“ hat eine kleine Diskussion darüber entfacht, wieviel Lärm und ekelerregendes Verhalten man als freiwilliger Bewohner St. Paulis ertragen können muss. Ich muss ehrlich gesagt zugeben: Auch ich goutiere es eher selten, wenn wildfremde Menschen mir unaufgefordert die Vielfalt ihrer Inhaltsstoffe präsentieren.

Einmal verließen wir das Haus und stießen unmittelbar davor auf einen Menschen, der sich zwischen zwei geparkten Wagen hingehockt hatte, um zu kacken.
Das wirft für mich die Frage auf, ob Armut und Obdachlosigkeit zwangsläufig mit dem vollkommenen Verlust von Würde und Selbstachtung einhergehen müssen. Wahrscheinlich kann ich das als Wohnungsbewohner und Nichtarmer letztlich nicht beurteilen – aber zurzeit denke ich: Nein, man müsste eigentlich auf einen Rest Würde bestehen wollen, unter allen Umständen.

Auch die Unverfrorenheit, mit der (nicht immer notwendigerweise hackedichte) Kiezbesucher ihr bestes Stück auspacken, um meinen Stadtteil mit endogenen Giftstoffen zu begießen, erstaunt mich immer wieder. Wir betraten neulich eine U3-Station und sahen, wie ein Mann ungeniert auf die Gleise schiffte. Was übrigens dank der Starkstromleitung zwischen den Schienen kein unbeträchtliches Risiko für seine Potenz darstellte. Aber hat er darüber nachgedacht? War er intellektuell überhaupt in der Lage, die Vor- und Nachteile seiner Handlungsweise zu reflektieren? Don't think so.

Unlängst war eine Fotografin in St. Pauli auf der Pirsch, um solche Anarchopinkler in flagranti abzulichten. Wie sie berichtet, war das vielen aber so was von schnuppe; manche reagierten anzüglich; und jene, die es störte, dass sie beim öffentlichen Schniedelschwingen verewigt wurden, konnte sie in der Regel mit dem als Schmeichelei empfundenen Satz besänftigen: „Ich steh auf so was.“


Sie hat die Fotos übrigens an der Großen Freiheit an ein seit Dekaden eingenässtes Haus plakatiert, dessen Fundament wohl inzwischen vowiegend aus Urinstein besteht.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Let's get crazy“ von Ric Ocasek, „In this home on ice“ von Clap Your Hands Say Yeah und „It's not the liqour I miss“ von Luke Doucet.

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13 Oktober 2005

Die verschwenderischen Zapfer

Mein Freund Gunnar, ein Profifotograf, hat sich die Bilder in diesem Blog mal angeschaut und kam zu dem fachkundigen Schluss, ich sei eindeutig ein „Stilllifer“.

Abgesehen davon, dass ein Wort, welches mit fünf strikt vertikal gebauten Buchstaben in Folge glänzt, nur Bewunderung verdient (selbst wenn es ein Anglizismus ist), so stimmt das absolut. Ich kann nur das halbwegs, was sich nicht bewegt.


Als neuerlicher Beweis mag das heutige Foto dienen, unlängst am Museum der Arbeit in Barmbek aufgenommen - obwohl der Kondensstreifen sich genau genommen schon irgendwie bewegt. Aber er atmet nicht, das ist wichtig.

Übrigens ist es auch meiner fotografischen Menschenscheu zu schulden und den grundsätzlichen Problemen, die es aufwirft, wenn man Fremde ohne ihr Einverständnis ablichtet, dass ich die folgende kleine Geschichte nicht bebildere.


Vor einigen Tagen sah ich am Rande des Heilggeistfeldes zwei abgerissene ältere Männer auf einer Bank sitzen. Sie beugten sich zueinander, als konzentrierten sie sich auf etwas. Im Vorübergehen sah ich, was es war.

Sie hatten ein Fünfliterfässchen Warsteiner zwischen sich auf der Bank stehen, und einer von ihnen versuchte das durch den Zapfhahn fließende Bier in eine leere Flasche zu füllen. Da der Strahl aber breiter war als die Halsöffnung, floß ein Gutteil davon auf den Bürgersteig. Wahrscheinlich hatten die beiden extra lange ihr Erbetteltes angespart, um sich eine preisgünstigere Großpackung leisten zu können - und dann das: keine Gläser. Das Leben ist kompliziert.


Ab heute gibt es an dieser Stelle übrigens immer die Songs des Tages. Nur zur Selbstvergewisserung. Und für die, die es interessiert. Heute also floß folgende große Musik durch meinen iPod: „Big Louise“ von Scott Walker, „Cripple Crow“ von Devendra Banhart und „Animal“ von Orenda Fink.

Natürlich noch viel mehr, denn ich war im Fitnessstudio, wo übrigens - o Wunder! - die Musik diesmal nicht ganz so schrecklich war wie im Eintrag „Das Fitnessstudio“
beschrieben (siehe September); und außerdem war sie auch etwas leiser, so dass ich die oben beschriebene große Musik sogar hören konnte, ohne meinen Hypotalamus persönlich mit den Ohrstöpseln bekannt machen zu müssen.

Sollte diese erfreuliche Entwicklung etwa daran liegen, dass ich bei der Bundeszentrale des Betreibers dezent auf den Blog-Eintrag „Das Fitnessstudio“ aufmerksam gemacht habe? Wenn ja, dann ist das der Beweis: Man kann die Welt ändern.

ICH kann die Welt ändern.


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10 Oktober 2005

Der Obdachlose

Vor einiger Zeit ging ich an einem Verkäufer des Obdachlosenmagazins Hinz & Kunzt vorbei, es war vor der unteren Rolltreppe in der S-Bahnstation Reeperbahn. Plötzlich rief er mir vorbereitungslos zu mit geweiteten Augen: „Es hat geklappt mit der Wohnung!“

Ich wusste trocken und spontan mit einem „Herzlichen Glückwunsch!“ zu parieren. Und während ich lächelnd weiter mein Fahrrad Richtung Ausgang schob, rief er mir nach: „Und am 24. Dezember habe ich eine Frau!“


In diesem Augenblick schien jener sagenhafte Herzog'sche Ruck durchs Land zu gehen, die Rezession wurde schlagartig egal, alle Gläser waren dreiviertelvoll. Dieser Mann stand da und war glücklich. Der Optimismus hatte menschliche Gestalt angenommen.
Aber verdammt: Warum bin ich nicht umgekehrt, habe ihm die Hand geschüttelt und fünfzehn Hinz & Kunzt abgekauft? Verdammt!

Nun, es war eh nicht wahr, das alles. Er stand beim nächsten Mal wieder da und beim übernächsten Mal immer noch, und drei Wochen später auch. Keine Wohnung, keine Frau, nicht mal mehr ein Hinz & Kunzt.


Heute, als ich mit dem Schwaben, Kramer, C. und dem Franken nach der Arbeit vorm Aurel in Ottensen saß (im Oktober! In Südschweden! Es lebe der Treibhauseffekt!) und ein Feierabendbier trank, da kam eine schneidezahnlose Obdachlose vorbei, und ich kaufte ihr ein Hinz & Kunzt ab.


Die Entscheidung hatte irgendetwas mit dem Typen in der S-Bahnstation Reeperbahn zu tun. Ich weiß nur nicht genau was.

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