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Die Rückseite der Reeperbahn

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Mein Foto
Name: Matthias Wagner
Standort: Hamburg, Germany

Schreiberling




25 Februar 2010

Ohne Worte (71): Freiheit pur



Entdeckt an üblicher Stelle in der Simon-von-Utrecht-Straße.


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10 Februar 2010

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (23)



Gehwegaktualität auf dem Kiez.


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04 Februar 2010

Fundstücke (65)



Gerüstet für die Schneeballschlacht – und sogar das Opfer schon im Blick. Entdeckt am Stephansplatz.

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01 Februar 2010

Vögel, die ins Nirgends starren



Die von ramses101 fein beobachteten Blutflecken im Schnee auf dem Außenalstereis haben wir heute auch gesehen.

Allerdings fiel in unserer Gegenwart niemand um oder auch nur auf. Ein friedliches Herumgehen und -stehen prägte die Stimmung auf der riesigen Eisfläche. Deshalb war das einprägsamste Bild des Tages auch nicht auf der Alster zu sehen, sondern auf dem Spaziergang dorthin, im Park Planten un Blomen.

Auf einem zugefrorenen Teich stand ein Schwarm Möwen still und stumm herum und starrte gemeinsam in Richtung Süden. Das sah aus wie eine eingefrorene Vogelschwarmskulptur – und schlug mich derart in den Bann, dass ich nicht mal auf die Idee kam zu fotografieren.

Stattdessen starrte ich (als Herdentier) einfach ebenfalls in die gleiche Richtung wie die Vögel. Aber dort war absolut nichts zu sehen.

Nicht mal ein gelandetes Ufo.


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24 Januar 2010

Ohne Worte (69): Mein schönster Ferienjob …



… vier Sommer lang: Bademeister in diesem Schwimmbad
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07 Januar 2010

Ohne Worte (68): Hamburg im Winter



Am Hauptbahnhof




Vor einem Hotel an der Alster




Auf dem Heiligengeistfeld




Alsterlauf


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25 November 2009

In Wind, Wetter und aller Ruhe

Es gibt kaum einen lächerlicheren Anblick als Menschen, die mit aufgespanntem Schirm Fahrrad fahren.

Einhändig karriolte heute ein älterer Herr dergestalt die Straße lang, während der hanseatische Sprühregen ihn gleichwohl von allen Seiten einnässte, und zwar hämisch.

Menschen, die mit aufgespanntem Schirm Fahrrad fahren, müssen Zugezogene sein. Hamburger tun so etwas nicht. Hamburger ziehen sich einfach wetteradäquat an, in jeder Situation, auch und vor allem, wenn sie Fahrrad fahren wollen.

Andererseits kann nicht jeder Dödel, der bei Sturm mit offenem Schirm die Straße betritt, ein Zugezogener sein. Dafür sieht man zu viele dieser hilflosen Trottel mit wild um sich schlagenden Schirmen ringen, und dafür liegen dieser Tage viel zu viele logischerweise zerfetzte Schirme im Rinnstein.

Doch es geht auch anders. Heute Abend sah ich auf der Reeperbahn einen Radfahrer im hochgeschlagenen Trenchcoat, der hielt kurz an, um sich in Wind, Wetter und aller Ruhe eine Pfeife anzuzünden, statt einen Schirm aufzuspannen. Dann radelte er weiter, kleine Rauchwolken in die Kieznacht pustend wie Emma, die Lok von Jim Knopf.

Ich werde es zwar nie beweisen können, aber das war mit Sicherheit kein Zugezogener.


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10 Januar 2009

Unter Null



Wenn man (wie ich) Anfang Januar feierlich die Fahrradsaison für eröffnet erklärt, dann sollte man unbedingt darauf achten, einen mittleren Gang eingelegt zu haben, bevor die Schaltung einfriert.

Passiert das nämlich im ersten, juckelst du über den Kiez wie ein Frettchen auf Speed; ist der siebte drin, erinnert dein Bewegungsablauf an einen gestrandeten Pottwal.

Kurz: Es ist frisch auf St. Pauli. Träge Eisschollen reiben sich an der Cap San Diego wie der Eber am Nadelholz. Und ich komme im vierten Gang noch ganz passabel die Helgoländer Allee hoch, ohne wie ein Volldepp auszusehen.

Hoffe ich mal.



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03 Dezember 2008

Rocker in Marokko



Abends klingelte das Handy, Jan war dran. Die eigentlich längst seligen Selig haben sich wiedervereinigt, übermorgen, erzählte er, flöge die Truppe geschlossen nach Marokko für eine Fotosession, und ich solle doch mitkommen, um Material für die große Selig-Wiedervereinigungsstory zu sammeln.

Ich musste absagen. Nicht nur wegen der Feier zur goldenen Hochzeit meiner Eltern, wo selbst entschuldigtes Fehlen als unentschuldbar gewertet würde, sondern auch, weil der internationale Luftverkehr eine komplette Schimäre ist, wie wir seit wenigen Tagen wissen.

Das gilt übrigens auch für die Behauptung, in Hamburg regne es überdurchschnittlich oft. Doch siehe da: In den Top Ten der nassesten deutschen Städte kommen wir gar nicht vor.

Der peinlichste Punkt in dieser erhellenden Statistik: Regensburg. Die Stadt hat ja eh nichts zu lachen, doch sich als Regensburg nur gerade so auf Rang 10 hochhangeln zu können: Das ist echt blamabel.

In Marokko regnet es übrigens noch seltener als in Hamburg.



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10 Februar 2008

Der Kiez meldet Frühlingsanfang

Da war er: der erste Tag des Jahres, an dem ich handschuhlos Fahrrad fahren konnte. Da geht dir glatt das Herz auf.

Man wird sogar vor der Zeit schon frühlingsmilde: Bei Spar schiss ich aus purer Gutgelauntheit nicht einmal jene Frau mit den wurstpellenengen Reiterhosen zusammen, die mit ihren bakterienbeladenen Fingern glaubte die Brötchen kontaminieren zu müssen.

Natürlich hätte ich sie trotz meiner Hochgestimmtheit sofort angemotzt, wenn auch mein Fach mit den Quarkbrötchen bedroht gewesen wäre. Denn auch mein Fass hat Grenzen. (Stromberg)

Selbst die Tatsache, an der Kasse genau einen verdammten Cent zu wenig fürs Begleichen der Rechnung in meinen Taschen vorzufinden, was normalerweise zu einem genussvoll ausgelebten paranoiden Schub führt, trübte heute meine Stimmung nur unwesentlich.

Denn über St. Pauli grinste die Sonne, ich fuhr handschuhlos Fahrrad, und im Gegensatz zu gestern versuchten heute keine drei verschiedene Autos, mich über den Haufen zu fahren.

Das Leben kann so leicht sein. Wenn es nur will.


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23 Oktober 2007

Hierzu ist mir keine Überschrift eingefallen



Von nun an soll
also der bislang goldschimmernde Herbst mehr ins Bleigraue lappen, wie man hört. Gut: Dann wird er hier eben konserviert, mit zwei Fotos aus Planten un Blomen vom Sonntag.

Wäre ich Droste, Rilke oder Regener, fiele mir bestimmt etwas Besinnliches zum Herbst ein, doch mir gelingt ja nicht mal eine Überschrift zu diesem Eintrag, und so sehr ich auch hin und her sinniere, ich muss immer nur an die anstehende Saison der tropfenden Nasen denken und an meine Grippeimpfung am Donnerstag.

Und an einen saisonübergreifend schnuffelnden Bekannten, der sich seine Lage geschickt schönredet: „So ein Grundschnupfen“, tröstete er sich neulich selbst, „ist nicht schlecht, der härtet ab.“ Doch vor was eigentlich – Schnupfen …?

Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Spruch, soviel ist klar.

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17 September 2007

Uriniert und ruiniert

Neulich erst hatte ich mir vorgenommen, über die einzigartig ruinierte rückseitige Fassade des Imperialtheaters in der Seilerstraße zu bloggen.

Sie stellt einen Anziehungspunkt dar für herumtorkelnde Kiezbesucher, die den dort festgebackenen Taubendreck mit selbstproduzierten Körperflüssigkeiten in einen mörtelartigen Schmier verwandeln. Mit diesem Stoff könnte man B-Waffen produzieren.

Außerdem hatte ich vor, aus dieser bedauerlichen Tatsache das dringend erforderliche Tünchen der gepeinigten Theaterwand zu folgern – doch jetzt ist der ganze fürchterliche Dreck plötzlich wirklich übertüncht und damit auch die Blogidee.

Alles geht auf dem Kiez eben schnell. Du guckst einmal nicht hin, und schon steht da ein neues Hochhaus, eine urinierte Fassade ist frisch getüncht oder deine Stammkneipe eine Straße weitergezogen – wie vor einiger Zeit das Komet.

Immerhin liegt der Laden weiterhin immens zentral, wie ich am Wochenende dem Tresenglobus entnehmen konnte. Die vor sich hin glühende Weltkugel hat nämlich ausschließlich Hamburg zum Thema; die Rückseite der Reeperbahn und somit auch das Komet liegen leicht südlich des Äquators (Klick aufs Fotos macht es groß).

Wenn wenigstens auch das Wetter sich an die geografischen Vorgaben des Kometglobus hielte. Doch dieses stundenlange Sprühen, das uns ein zynischer Spätsommer heute statt eines ordentlichen Wolkenbruchs anbieten zu müssen glaubte, dachte gar nicht daran.

Wenigstens senkt das feuchte Fusseln auch die Quote herumtorkelnder Kiezbesucher. Vielleicht kommt mir das aber auch nur so vor, weil Montag ist – die Leute liegen einfach alle noch im Koma.

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28 Juli 2007

Nass und baff

Wenn man an einem Samstag genau dreimal das Freie aufsucht, und das Wetter geruht, jeweils genau dann einen brachialen Wolkenbruch zu inszenieren – dann fühlt man sich auf einmal ganz schön wichtig. Und nass. Dreifach.

Wie ich außerdem erstaunt erfahren muss, sind die
Tagesschau-Damen Laura Dünnwald und Caroline Hamann beide gleichzeitig schwanger – und ich wusste nicht mal, dass die beiden überhaupt einen Unterkörper haben.

Merkwürdiger Tag, echt.

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04 Juli 2007

Wer stoppt den Regen? Gute Frage.

Beim Konzert von John Fogerty im Stadtpark regnet es praktisch vom ersten bis zum letzten Stück. Der Mann rockt, dass sich ihm die dritten Zähne lockern, aber überdacht und deshalb im Trockenen.

Wir hingegen – also Tish Hinojosa und ich – stehen im Matsch. Das Wasser kommt nicht in Tropfen vom Himmel, sondern in Fäden. Was aber auch Vorteile hat. Denn süffelt man sein Bier im Regen, sinkt der Pegel im Becher deutlich langsamer, als es die Trinkgeschwindigkeit eigentlich nahelegt.

Natürlich sinkt zugleich auch peu ˆà peu der Alkoholgehalt, doch das werden nur Proleten als Nachteil empfinden. Dem Mann von Welt indes vermittelt sich dies einfach als verfeinertes Geschmackserlebnis.

Ähnliches gilt auch für die Musik. Wer nie von John Fogerty live und persönlich überzeitliche Großballaden wie „Have you ever seen the rain“ und „Who’ll stop the rain“ serviert bekam, derweil ihm sinnigerweise bindfadenartiger Regen den Bierbecher auffüllte, der kann nicht mitreden bei den Themenkomplexen Rock’n’Roll, Authentizität, Tautologie und dämliche Zufälle.

Das weiß ich aber selbst erst seit heute Abend. Und jetzt schnell umziehen.

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01 Juli 2007

Auf dem Nachtflohmarkt



Wie alles auf dem Kiez geht hier auch ein Flohmarkt erst zu später Stunde los, und deshalb heißt der auf dem Spielbudenplatz neben der Reeperbahn auch kurzerhand Nachtflohmarkt.

Seine Laufzeit – von 17 bis 23.30 Uhr – ist für Spätaufsteher wie mich von geradezu erotischem Reiz. Ich war sogar wild entschlossen, dort einen eigenen Stand zu betreiben. Allerdings fand sich für heute kein Mitstreiter, weshalb ich erst bei einem der nächsten meine Waren feilbieten werde. Lauter legale natürlich.

Beim Streunen über den Markt stachen relativ wenige kieztypische Stände ins Auge; der abgebildete gehörte aber definitiv dazu. Trotzdem erstand ich keine dreiviertelnackten Schaufensterpuppen, sondern langweiligerweise das, was ich immer erstehe, nämlich viel zu viele Platten.



Und ich knipste den Himmel überm Spielbudenplatz. Ein halbgarer Sommer wie dieser fährt nämlich am Firmament ästhetisch besonders viel auf – und bietet so jede Chance, sich auch dieses Wetter schönzureden.

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05 Juni 2007

Typischer Dialog im Frühsommer (und dann wieder im Frühherbst)

Ms. Columbo: (im Büro am Rechner) „Warum ist es hier so kalt? Ist irgendwo eine Balkontür auf?“
Matt: „Mooooment mal: Schon die Prämisse dieser Frage ist falsch. Hier ist es überhaupt nicht kalt. Deshalb ist es auch irrelevant, ob irgendwo eine Balkontür auf ist.“
Ms. Columbo: „Und warum habe ich dann so kalte Hände und Füße? Willst du mal fühlen?“
Matt: „Klar …“ (fühlt) „Ouwha … Aber warum habe ich dann so warme Hände und Füße?“
Ms. Columbo: „Weiß nicht.“ (Wärmetransfer läuft.)
Matt: „Was ist denn mit der beheizbaren Maus, die ich dir geschenkt habe?“
Ms. Columbo: „Die ist doch nur für die rechte Hand. Und was ist mit der linken und den Füßen?“
Matt: „Ähm, sag mal … Die Maus ist ja überhaupt nicht warm! Hast du denn die Mausheizung gar nicht eingeschaltet?“
Ms. Columbo: „Nein. Dann ist nämlich die Lüftung des Rechners noch lauter.“
Matt: „Ich schließe jetzt mal die Balkontür.“
Ms. Columbo: „Sehr gut.“

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01 Juni 2007

Als das Virus wiederkam (Zum Start der Open-Air-Saison)

Noch Anfang dieses Jahrtausends brach jeden Sommer eine weltweite Epidemie aus, und Millionen Infizierter wankten willenlos hinaus ins Grüne, zu Musikfestivals. Inzwischen ist die Massenerkrankung besiegt. Ein Rückblick mit Schaudern – aus dem Jahr 2054.

Aus der Sicht von heute – Sommer 2054 – wirkt das Verhalten junger Leute Anfang des Jahrtausends bizarr. Schuld war ein Virus. Immer im Sommer schlug es zu und zwang die Menschen zunächst dazu, sogenannte „Vorverkaufsstellen“ aufzusuchen.


Die von solcher Hirnvernebelung Befallenen beschlossen dann wie ferngesteuert, ein ganzes Wochenende lang alle Bequemlichkeiten der Zivilisation abzustreifen und sich in eine archaische Situation zu begeben, die ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit unbedingt abträglich war. Das Groteske: Sie bezahlten sogar dafür! Um die 100 Euro Tribut forderte das Virus pro „Open-Air-Festival“, wie man damals den Ort der Krankheitsausübung beschönigend nannte.

Die Folgen waren grausam: Wer unterm euphorisierenden Einfluss des Woodstockvirus (so sein wissenschaftlicher Name) Wald und Wiesen aufsuchte, neigte binnen kurzem dazu, sich zu entkleiden, selbst wenn ästhetische Erwägungen dagegen sprachen.


Im Furor des Virenfiebers nahmen die Enthemmten alkoholhaltige Getränke im Übermaß zu sich und verschmutzten ihre unmittelbare Umgebung alsbald mit Abfällen aller Art, darunter Körpersäfte und –stoffe. Abends krochen die Infizierten in feuchte Zelte statt ins heimische Bett, holten sich frohgemut Halsentzündungen mitten im Sommer und erlebten das gemeinsame Klobenutzen mit 80 000 Leidensgenossen irrigerweise als beglückend – und das, obwohl viele der Kranken ein virusbedingt sehr lockeres Verhältnis zur Körper- und Raumhygiene hatten.

Oftmals verwandelte Regen die weitläufigen Areale vor den Bühnen in schlammige Seen. Gesunde hätten darauf mit einer Mischung aus Ekel, Dusch- und Abreisezwang reagiert, doch seit dem erstmaligen Ausbruch des Virus 1969 gehörte es zur Symptomatik des Befalls, das meist nackige Sichsuhlen im Dreck als toll zu empfinden und sich zur Not lieber mit einem Trecker aus dem Schlamm ziehen zu lassen, als dieses vermeintliche Vergnügen panisch zu fliehen.

Am schlimmsten jedoch waren die Darbietungen selbst, zu deren Besuch das Virus die Menschen trieb. Wer heute Musik hört, die ja seit 2031 nicht mehr öffentlich, sondern nur noch privat abgespielt werden darf, kann sich kaum vorstellen, welches Inferno regelmäßig über die Virusträger hereinbrach.


Auf den gewaltigen Bühnen spielten sogenannte „Bands“: selbst Erkrankte, die spezielle Parallelsymptome (Kreativität, Exhibitionismus) dazu trieben, öffentlich im Freien zu lärmen. Und technisch waren die Menschen jener Ära wirklich in der Lage, Lärm zu machen, o ja!

Hoch aufragende Boxenwände prügelten mit Tausenden von Watt auf die Kranken vor den Bühnen ein, und unter dieser Tortur begannen sie verweifelt zu schreien, ihre schlammverkrusteten Extremitäten zuckten konvulsivisch, und ihre nicht mehr steuerbaren Hände schlugen brutal aufeinander ein, bis sich die Innenflächen röteten.

So zwang das Virus die Infizierten nicht nur willenlos in die Wildnis; dort erwartete sie auch noch eine rundum fürchterliche Situation aus bedrückender Beengtheit, null Hygiene und Schallterror. So konnte es natürlich nicht weitergehen, und schon einige Jahre bevor das weltweit letzte Großkonzert vor echten Zuschauern über die Bühne ging (Tokio Hotel, Maracanã-Stadion, Rio de Janeiro, 2022), zeichnete sich das Ende der Liveära ab.


Für die vielen Kranken war es immer gefährlicher geworden, allsommerlich Festivals zu besuchen. Hörschutz aus der Sprengbranche, Schienbeinschoner und Kevlarwesten gehörten spätestens seit Hurricane 2014 zur Standardausrüstung jedes Infizierten. Die Gefahr, bei einem Kreislaufkollaps von merkbefreiten Mitpatienten totgetrampelt zu werden, ließ sich dagegen nur mit dem Ganzkörperairbag (vulgo „Festivalwurst“) abwenden.

Das pfiffige Teil kam um 2015 in Mode: Sobald ein eingebauter Sensor an der Brust „horizontale Lage“ signalisierte, pumpte es sich explosiv auf wie eine Schwimmweste und verschaffte dem Kranken zugleich eine Liegefläche von anderthalb Quadratmetern. Während der Massenpanik 2017 im dänischen Roskilde, einer der europaweit größten Versammlungsstätten Viruskranker, verhinderte die Festivalwurst das Schlimmste.

Open-Air-Besuche jedenfalls mussten irgendwann geplant werden wie Himalaya-Erstbesteigungen. Doch die Erkrankten waren wegen ihrer herabgesetzten Ratio dazu einfach nicht mehr in der Lage. Ab 2016 weigerten sich zudem alle Krankenkassen, die Behandlung von Knochenbrüchen, Gehörschäden und schlammbedingter Diarrhö zu finanzieren, wenn der Patient nicht nachweisen konnte, innerhalb des letzten Monats kein Open-Air-Konzert besucht zu haben.

Die Lage geriet allmählich außer Kontrolle, der volkswirtschaftliche Schaden ging ins Unermessliche. So entschlossen sich weltweit die Gesundheitsministerien in einer dramatischen Gesetzesinitiative, globale Massenimpfungen gegen das Woodstockvirus schon bei der Einschulung durchzusetzen.
Mit Erfolg: Seit 2022 gibt es keine Freiluftfestivals mehr, in öffentlichen Innenräumen (damals: „Liveclubs“ oder einfach „Clubs“) wurde schließlich 2030 die letzte Monitorbox ausgemustert.

Heute, ein Vierteljahrhundet nach dem Scheitelpunkt der Krise, scheint die Krankheit im Griff, das Virus eingedämmt. Und wenn mal wieder ein Fall publik wird, wo sich jemand schreiend, zuckend und mit aufgedrehtem iPod in ein Schlammloch geworfen hat, um sich mitten im Sommer eine Erkältung zu holen und ein unter falschem Namen gemietetes und sorgsam verdrecktes Dixieklo zu benutzen, dann behandeln die Gesundheitsämter das sehr diskret.


Aber auch mit aller gebotenen Härte.

Dies ist die gekürzte Fassung eines Textes, den ich für das U_mag geschrieben habe. Er ist in der aktuellen Ausgabe nachzulesen, mit viel schöneren Fotos.

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15 April 2007

Alle Vöglein sind schon weg

Touristen schieben sich schwarmartig über die Landungsbrücken, die eklen Dieselschwaden der Schiffe hängen träg im traumhaften Tag, und wir suchen einfach nur Enten. Gerne auch Möwen.

Denn wir haben Brotkanten dabei, und Vögel sollen sie fressen, solange es keine Tauben sind, diese elenden Ratten der Lüfte. Hierher aber, ans hochsommerliche Glitzerfunken sprühende Wasser, trauen sich die Tauben nicht. Sie fürchten sich vor der Aggessivität und den Hakenschnäbeln der Möwen. Aber wo sind die Möwen bloß? Und wo die Enten?

Wir sehen keine. Eine Brücke nach der anderen laufen wir zunehmend verwundert ab, doch die Elbe scheint jetzt, wo endlich die Lachse wieder da sind, vom gefiederten Volk völlig verlassen.

Wir sind schon wieder auf dem Rückweg, als ich auf dem kleinen Ponton unter Brücke 10 endlich ein faules Entenpaar entdecke. Es sitzt träg im Schatten des traumhaften Tages und verdöst die Mittagszeit, statt seiner evolutionären Pflicht zu folgen und Nahrung zu suchen.

Doch heute erweist sich Tatenlosigkeit als genau richtige Taktik im Sinne Darwins, und als das erste Stückchen Brot neben ihnen ins Wasser platscht, sind die beiden sofort hellwach – genauso wie die gefühlten dreißig Möwen, die urplötzlich aus dem Nichts materialisieren, als hätte Scotty sie hierher gebeamt, an die Landungsbrücke 10.

Wo, verdammt, waren diese Vögel die ganze Zeit? Und wie, in Phoenix’ Namen, kriegten sie die Mannalieferung derart schnell spitz? Jedenfalls herrscht binnen Sekunden ein Hauen und Stechen. Wir versuchen die Enten zu bevorzugen, weil sie keine Chance hätten im Kampf mit den Möwen, doch wir haben eh genug für alle dabei.

Schon bald sind Enten und Möwen satt und prall und zunehmend desinteressiert. Ich kann Ms. Columbo zu Hause abliefern und sofort rübergehen zum Stadion, wo ich auf den letzten Drücker noch eine Schwarzmarktkarte fürs Spiel meines kleinen Stadtteilvereins gegen Holstein Kiel ergattere.

St. Pauli siegt 2:0, ich stehe in der Nordkurve träg im traumhaften Tag und hole mir – Mitte April – einen leichten Sonnenbrand auf beiden Lippen.

Ich liebe den Klimawandel.

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28 Februar 2007

Nie mehr verreisen

Ms. Columbo hat sich bis zum Jahresende etwas sehr Ehrgeiziges vorgenommen: Sie will einen Liegestütz schaffen.

„Sehr schön! Aber warum verdoppeln wir nicht gleich das Ziel auf zwei Liegestütze?“, versuche ich mich in der Rolle des personal trainer, der ja immer einen Ort jenseits des vorhandenen Potenzials anpeilen muss.

„Nein“, sagt Ms. Columbo bestimmt, „ich setze mir nur realistische Ziele.“

Der diesjährige Winter tat das auch, und sein wichtigstes hat er schon erreicht: der wärmste aller Zeiten zu werden. Auf dem Spielbudenplatz spiegeln sich die Lichtspiele in nassem Beton statt im Schnee, und ich ertappte mich heute dabei, bereits ohne schützende Mütze durch Ottensen zu laufen.

Ja, fast ist er schon wahr, dieser schöne Satz aus Sibylle Bergs letztem Brief: „Draußen ist Frühling“, schreibt sie, „und das Gute am Rest des Lebens könnte sein, dass wir nie mehr verreisen müssen.“

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20 Januar 2007

Weg mit den Wischmopps!

Statt dezent herausgeputzten Privatiers vorauseilenden Alters begegnen wir nun wieder torkelnden Schnorrern in Kapuzensweatshirts – ja, wir sind zurück auf dem Kiez.

Zuvor waren wir im Karlsruher Bahnhof auf einen Stand gestoßen, der neben allerlei badischen Spezialitäten auch „Schmalz ohne Schwein“ darbot. Und unterwegs, im Zug irgendwo zwischen Frankfurt und Kassel, hatte der Himmel an einer mächtigen Skulptur gebaut; einer Drohkulisse aus Sturmerinnerung und Frühlingsahnung.

Nach der Fernseherfahrung der letzten drei Tage fordern wir übrigens ultimativ, mindestens ein Jahr lang keine zerzausten Außenreporter mehr sehen zu müssen, die phallische Wischmopps zutexten und vor der Schalte extra ihren Pferdeschwanz gelöst haben, um sich während der Übertragung ständig die Haare aus dem Gesicht fuchteln zu müssen.

Wäre das möglich, ihr n-tvs und RTLs und wie ihr alle heißt? Selbst wenn's mal wieder weht?

Danke SCHÖN.

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19 Januar 2007

Total therminiert

Warum man sich nach knapp vier Stunden im hiesigen Thermalbad fühlt, als hätte man gerade den Ironman auf Hawaii absolviert, kann uns auch eine eigens befragte Einheimische nicht schlüssig beantworten, aber immerhin bestätigen.

Sie ergänzt die merkwürdige Zerschlagenheit, die uns postthermal befallen hat, allerdings noch um eine Beobachtung an sich selber. Nach dem Thermenbesuch, erzählt sie, ereile sie stets ein seltsamer Entspannungskopfschmerz – ein Wort, das ich sogleich begeistert zum Wort des Tages küre: Entspannungskopfschmerz!

Stets wandelnd auf dem schmalen Grat zwischen halbwach und wegdämmernd versuchen wir nachmittags telefonisch die Chance zu ermitteln, morgen fahrplangemäß von der Bahn nach Hamburg transportiert zu werden. Dafür wurde eigens eine Hotline eingerichtet. Doch wie immer in solchen Sonderfällen hätte man sich diese Mühe gleich sparen können.

Bei einer Katastrophenhotline durchzukommen ist nämlich etwa so wahrscheinlich, wie den Ironman auf Hawaii zu gewinnen oder nach einem Besuch des hiesigen Thermalbads nicht von bleierner Müdigkeit niedergestreckt zu werden.

Der abgebildete Kran unterm Baldachin der postkyrillischen Wolken steht übrigens direkt neben der Therme; auch er gab sich träumerisch bewegungslos. Mal hoffen, dass sich ihm die Bahn morgen nicht anschließt.

Denn in Baden-Baden festzuhängen wäre nur von sehr beschränktem Reiz, auch wenn man sich mithilfe diverser aquatischer Attraktionen nach Belieben sedieren könnte – und so das Hierhängengebliebensein eventuell wieder vergäße.

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18 Januar 2007

Mitten im Muggensturm

Der rechts dokumentierten Verheißung auf der Fensterscheibe eines Baden-Badener Schmuckladens könnte man wohlwollend unterstellen, sie versuche den Zungenschlag des hiesigen Eingeborenen zu verschriftlichen. Doch gelang das nur unzureichend.

Korrekt nämlich hätte es heißen müssen: „Subberbreise“. Sich selbst aufs Maul schauen können sie hier unten nicht. Neben den „Supper Preisen“ begegnen uns hier eine Vielzahl weiterer absonderlicher Wörter, darunter Ortsnamen wie „Muggensturm“.

Ms. Columbo vertritt die Theorie, dies sei badisch für den Angriff eines Schwarms aggressiver Stechinsekten, während ich die These in die Waagschale werfe, es könne sich dabei auch um einen Turm handeln, der einst der feudalen Familie Muggen grundbuchamtlich zugewiesen war und dessen drumherum allmählich entstandenes Dorf somit den irgendwie genitivisch anmutenden Namen „Muggensturm“ erhielt.

Geklärt werden konnte der genaue Sachverhalt aber bisher nicht. Weitere Seltsamkeiten wie „Felgenbaum“, „Schmutzrasierer“ oder „Staubschwert“ dürfen wir hingegen nicht als ortsspezifisch ansehen, denn wir entdeckten sie in einem Tchiboladen, und so etwas gibt es ja auch in Hamburg zuhauf, wahrscheinlich mit gleichem Sortiment.

Übrigens sind wir noch nicht weggeflogen, obwohl Orkan Kyrill heute in der Fußgängerzone sogar mit gusseisernen Blumentopfständern Bowling spielte.

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17 Januar 2007

Fundstücke (31)

1. Ha, hervorragende Idee: Wer ungern seine Telefonnummer rausrückt, kann künftig einfach die 0163-173 77 43 eintragen. Und wer geht dann ran? Na, Frank natürlich. Eine sonore Profistimme informiert über die Vergeblichkeit dieses und aller weiteren Anrufe. Auch geeignet für Webgewinnspiele, One-Night-Stands und Expartner. (via Lawblog)

2. Sehr schöner DVD-Titel, entdeckt bei Amazon: „A headless body in a topless bar“. Filmtitelerfinder haben es auch nicht leicht.

3. Ja, ich liebe einen Song von Nana Mouskouri: „Küsse süßer als Wein“. Jetzt covert auch Klaus Lage das Stück, was gar nicht so schlimm wäre, hätte der Tausendmal-berührt-Barde ihn nicht umgetextet. Einer der schwer erträglichen Verse, die fast die peinigende Wollsockengefühligkeit des späten Reinhard Mey erreichen, lautet so: „Inzwischen wurden längst aus zwei Kindern vier / und jedes ist für sich unser größtes Plaisir.“ Mal ganz abgesehen von der dahinholpernden Lyrik: Klingt das nicht ein wenig wie die Selbstbeschreibung einer dem Inzest traulich zugeneigten Päderastengruppe? Na gut, wahrscheinlich nicht.

4. Per Mail erhielt ich heute Abend die Kunde, ein Mitglied von Bookcrossing habe am Bahnsteig der U St. Pauli Douglas Adams’ Buch mit dem vor Understatement schier platzenden Titel „Das Leben, das Universum und der ganze Rest“ hinterlegt. Obwohl ich dieses Werk – Bestandteil einer fünfteiligen Trilogie übers Trampen im All – bereits besitze, werfe ich mich in die Windjacke und husche durch den Regen zur U Bahn, wittere über den Bahnsteig, schaue hier hoch und dort runter, luge sogar (verstohlen!) in die Mülleimer, finde das Buch aber nicht mehr vor. Jemand war schneller als ich. Also trotte ich pudelnass wieder nach Hause. Wann sagt dieses Wetter eigentlich mal tschüs zum Norden, hm?

5. Ersatzweise fliehen Ms. Columbo und ich eben nach Süden, ph. Wer heute bei unserer Abendgestaltung in Baden-Baden dabei sein möchte, wo Norah Jones gestern vom Oberbürgermeister ein Baden-Baden-Badetuch geschenkt bekam, findet hier den Live-Stream dazu. Wir werden auch ganz laut schreien.

Alle bisherigen Fundstücke:
1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, Oh, my Google!

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03 Januar 2007

Die Wetterlüge

Die Werbung für Drei-Wetter-Taft hat Hamburg nachhaltiger geschadet als die Sturmflut anno 62.

In diesem verfluchten Spot steht eine mit flüssigem Haarnetz gepanzerte Geschäftsfrau an der Flugzeugtreppe, und aus dem Off raunt es: „Hamburg: Regen“.

Das stimmt nur manchmal, aber meistens nicht. Nein, Hamburg präsentiert seinen Bewohnern in der Regel ein ausgetüfteltes Ensemble buntester Wetterphänomene, von denen Regen in all seinen Erscheinungsformen nur jeweils eine Detailvariante darstellt.

Vorgestern zum Beispiel ging ich bei Sonnenschein aus dem Haus, geriet in Höhe Imperial-Theater – also rund 50 Meter entfernt – in einen punktuellen Hagelschauer, der mich rund 33 Sekunden zum Unterstellen zwang, ehe ich weitere 100 Meter weiter, an der Fußgängerampel zur U-Bahn, von einem fein zerstäubten Nieseln erfrischt wurde, welches es so wirklich nur in Hamburg gibt.

Du denkst: Dieses putzige Gefusel in der Luft, das nehme ich nicht ernst. Und zwei Minuten später triefst du, als hätte man dich frisch aus der Alster gezogen. Metereo-logisch ist das nicht. Aber interessant.

Und so wild und wuchtig sich auch manch Wolkenkathedrale hochbäumt über den stoischen Hafenkränen, so darf man doch nie überrascht sein von der Plötzlichkeit eines Putschs der Sonne.

Dieser Drei-Wetter-Taft-Tante wünsche ich jedenfalls unser zerstäubtes Nieseln an den Hals, sobald sie wieder mal gepanzert eine Flugzeugtreppe in Fuhlsbüttel betritt.

„Hamburg: Regen“? Na, hoffentlich.

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09 Dezember 2006

Barfuß bei Aldi

Auf dem Weg zur Aldifiliale in Ottensen – irgendwo in der Nähe des verstrahlten Hauses, in dem man gerade Polonium 210 und Hinweise auf den Fall Litwinenko gefunden hat – gehen zwei Männer vor mir her. Einer davon ist barfuß.

Er trägt auch nur eine halbe Hose, und seine recht plumpen Waden werden umschmeichelt vom Dezemberwind. Endlich, freue ich mich, habe ich ein Symbolbild für die Klimakatastrophe.

Der Mann ist ausstaffiert mit Piratenkopftuch und Tarnjacke. Ob sich Schuhe in seiner Plastiktasche befinden, kann ich nicht sagen; das, was die Tasche quaderförmig ausbeult, sieht aber nicht so aus. Mit seinem Kumpel unterhält er sich ganz normal, als sei es keineswegs verhaltensauffällig, kurz vor Weihnachten barfuß durch Ottensen zu laufen.

An der Aldikasse begegne ich ihm wieder. Der Kassierer signalisiert erfreutes Wiedererkennen. Auch grüßt der Barfüßige lächelnd eine Bekannte in der Nachbarschlange.

Alles scheint ganz normal zu sein. Alle tun so, als sei der Mann entweder nicht barfüßig oder als sei es Sommer und deshalb okay, barfüßig umherzulaufen, oder als sei es inzwischen völlig üblich, dem Dezember schuh- und strumpflos hallo zu sagen.

Vielleicht ist es ein noch stärkeres Symbol für die Klimakatastrophe: dass man ihre Auswirkungen aufs Stadtbild längst gelassen hinnimmt.

Ms. Columbo ist übrigens eine entschiedene Befürworterin der allgemeinen Winterlosigkeit, ungeachtet sämtlicher Konsequenzen für Bangladesh, den Golfstrom oder die Mückenüberlebensrate. Ob der atlantische Kontinentalhang vor Norwegen nun abrutscht oder nicht: Hauptsache, sie hat nicht mehr so kalte Flossen.

Kann man ja auch irgendwo nachvollziehen.

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01 August 2006

Kollateralschäden der Klimakatastrophe

Jetzt, wo die Hitze Atempause macht, ist die Gelegenheit günstig, über ihre Nachteile zu sprechen. Hitze nämlich ist gefährlich. Nicht nur unmittelbar, auch indirekt.

Kramer zum Beispiel schlurft seit Tagen nur noch barfuß durch die Räume, und gestern rollte ihm der Franke mit seinem Stuhl versehentlich über den linken großen Zeh.

Hätte Kramer Gummistiefel getragen oder eisenbeschlagene Straßenschuhe, wie es etwa winters durchaus Usus ist, nichts wäre geschehen. So aber brüllte er auf wie Godzilla, der gerade einen Panzerfausteinschlag im Schritt wegstecken muss.

Bestürzt stürmte ich rüber ins Nachbarbüro. „Nicht lachen“, mahnte der Franke bei meinem Eintritt beschwörend und mit ernster Miene, während Kramer durch wildes Fluchen und Herumspringen die Phase des akuten Schmerzgebrülls zu überbrücken suchte.

Keine Stunde später drang erneut ein urtümlicher Schrei aus diesem Abu Ghureib Ottensens, und wieder war unverkennbar Kramer das Opfer. Diesmal gemahnten Timbre und Ausdruckskraft seiner vokalen Eruptionen eher an King Kong auf dem Empire State Building (Remakefassung). Was war denn jetzt schon wieder passiert?

Gelassener als beim ersten Mal begab ich mich zur Erkundung der näheren Umstände hinüber. Der Franke hatte erneut diesen warnenden „Bloß nicht lachen!“-Blick, während Kramer durchs Büro marodierte wie eine amoklaufende Abrissbirne. Offenbar war er intuitiv zu der Überzeugung gelangt, es sei ein probates Mittel zur Linderung seines Leids, unschuldige Gegenstände wie Bücher, Sandalen oder halbplatte Minilederbälle in alle Büroecken zu pfeffern. Mir schien zwar spontan eine Packung Thomapyrin geeigneter, doch ich hielt schön den Mund.

Kramer jedenfalls hüpfte auf dem vor einer Stunde noch immobilen Fuß herum, was diesmal klar das rechte Pendant als geschädigt auswies. Allmählich kristallisierten sich auch vage die Details des Zwischenfalls heraus. Eine seiner Lautsprecherboxen war wohl durch letztlich unklärbare Umstände vom Tisch gerutscht und ihm dann direkt auf den rechten großen Zeh gedonnert – offenbar mit der Ecke voran, so dass sich die kinetische Energie der Box sehr effizient auf einer kleinen Stelle der Kramerschen Gesamtkonstruktion entladen konnte.

Den genauen Verlauf durch Rückfragen zu klären, kam keinesfalls in Frage. Dazu fehlte sowohl dem Franken als auch mir der Mut. So betrachteten wir stumm unser geschundenes Mitgeschöpf, welches seiner schmerzbefeuerten Wut auf Gott und die Welt und jedes Grad Celsius freien Lauf ließ und keinerlei Ansprache mehr zugänglich war.

Später, als ich noch einmal vorsichtig um die Ecke ins Nachbarbüro lugte, sah ich Kramer auf seinem Stuhl kauern und mit einem Eisbeutel hantieren. Für ein freundliches Wort war es aber immer noch zu früh. Und schuld ist wer? Die Klimakatastrophe.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Schmerz
1. „Hurt" von Johnny Cash
2. „Pain killer" von Turin Brakes
3. „A pain that I'm used to" von Depeche Mode

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20 Juli 2006

Hitzewelle

38 Grad im Schatten. Der heißeste Tag in Hamburg seit dem Urknall oder wenigstens seit Domenica ihre Karriere beendet hat. Die Hitze macht die Menschen zu Irren.

An der Schmuckstraße steht ein älterer Herr mitten auf dem Fußgängerweg und dirigiert ein imaginäres Orchester. Sein Blick geht in eine beängstigende Ferne, von der ich nicht mal wissen möchte, dass sie existiert.

Im Bus sehe ich einen Mann mit struppigen Koteletten bis zum Kinn. Er ist kugelig wie Helmut Kohl, aber einen halben Meter kleiner. Das Erstaunlichste an ihm aber ist seine Kleidung. Während ich dasitze und versuche, möglichst flach zu atmen, um jede schweißtreibende Bewegung zu minimieren, trägt dieser Mann einen gestrickten Wollpullover. Langärmlig.

Allein vom Hinsehen geraten meine Schweißdrüsen in Panik. Als ich aufgestanden bin und auf die nächste Haltestelle warte, sehe ich noch Unfasslicheres: Unter seinem Wollpullover lugt ein roter Kragen hervor, offenbar von einem Polohemd oder etwas Ähnlichem. Trotzdem ist auf seinem gurkendicken Nackenwulst kein Schweißtropfen zu sehen.

Plötzlich aber rieche ich es. Ihn umgibt ein dumpfer Geruch wie von fauligem Stroh oder alten feuchtgewordenen Kartoffelsäcken, mit unsagbaren Molekülen angereichert von seiner viellagigen Kleidung. Er schwitzt offenbar doch. Nur nicht am Nacken.

Abends taumele ich nah am Hitzschlag durch Ottensen, als ich überm Eingang von Photo Dose den Kasten einer eifrig brummenden Klimaanlage erblicke. Sofort betrete ich bedürfnislos den Laden. Eine erquickende Kühle umstreichelt mich wie der Fächerwind von hundert Geishas, und ich widme mich ausführlich dem Betrachten billiger Bilderrahmen. Auch das aufmerksame Studium der Funktionsweise eines Digitalbilddruckers beschäftigt mich minutenlang.

Die Geishas sind unermüdlich. Sie scheinen mir zuzulächeln. Als kein anderer Kunde mehr im Laden ist, verwickle ich den Mann hinterm Tresen in ein sinnloses Gespräch über die Preisunterschiede zwischen Postern, die vom Digitalbild gezogen werden, und jenen, die aus Filmnegativen entspringen.

Der Mann weiß rein nichts darüber, er habe die Preise nicht gemacht, erklärt er, aber ich lasse nicht locker und hoffe, unterm Einfluss der Klimaanlagengeishas nicht allzu debil zu grinsen.

„Klären Sie das?“, frage ich ihn abschließend, „ich komme wieder und frage noch mal nach.“ Verwirrt bejaht er. Hauptsache, ich gehe, scheint er zu denken. Und das tue ich auch, beschwingt und gestärkt.

Doch nichts vergisst man so schnell wie Hitze, der man entflohen ist, und kaum stehe ich vor der Tür, bereue ich es, den Mann hinterm Tresen nicht auch noch nach Schumis Chancen gegen Alonso und vor allem zu Lösungsansätzen im Nahostkonflikt befragt zu haben. Na, beim nächsten Mal.

Nur ein eissatter Caipirinha im Aurel kann die Lage jetzt wieder verbessern. Zum Glück erwarte ich dort German Psycho – bei seinem Anblick gefriert einem ja stets das Blut in den Adern. Ein grandioser Effekt bei 38 Grad im Schatten.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Hitze
1. „Heatwave" von The Blue Nile
2. „Long hot summer" von The Style Council
3. „The big heat" von Stan Ridgway

Foto: planet-wissen.de

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06 Juli 2006

Fundstücke des Tages (21)

1. Die Tageszeitung Die Welt brachte gestern einen Artikel über Hamburger Blogger, und der Autor stieß irgendwie auch auf mich, obwohl er mit Lyssa oder Eric Hegmann bestimmt mehr hätte reüssieren können. Was soll's: So kamen Rasmus vom brillanten, aber leider brachliegenden Blog Abgrund Hamburg, Erik von der Ringfahndung und ich nicht umhin, einige Marginalien beizusteuern. Wen's interessiert: Der Text steht hier online und wird hier archiviert.

2. Jemand, den ich kenne, nimmt gerade den Familiennamen seiner Frau an, weil beide keinen geeigneten Namen für ihr noch zu gebärendes Kind finden, der mit dem tütensuppenhaften „Knorr“ harmoniert. Eine rührende Geste. Aber soooo einfach wird das mit „Autzen“ auch nicht.

3. „Alle Mannschaften ziehen sich zurück, alles ist taktisch und studiert, nicht vibrierend. Deutschland ist die Ausnahme. Ich wünschte mir, Brasilien würde spielen wie Deutschland." Das ist zweifellos der schönste Satz, den ich seit Jahrzehnten über den deutschen Fußball gehört habe. Gesagt hat ihn Tostão, eine der brasilianischen WM-Legenden von 1970, einer aus der Pelé-Mannschaft also. Bin sprachlos. Nein, ein Wort fällt mir doch ein: Klinsmann.


4. Der Wolkenbruch heute nachmittag versuchte das alte Fabrikgebäude, in dem unsere Redaktion untergebracht ist, in die Elbe zu spülen. Es blieb allerdings bei pittoresken Tropfenmustern auf den Fensterscheiben. Aber kühler ist es nicht geworden, nur feuchter.

5. Der große Soul- und Bluessänger Van Morrison erwähnt in einem seiner Songs erstaunlicherweise die Reeperbahn, und zwar im Stück „Heavy connection“ vom Album „A period of transition“. Die Platte erschien 1977. Ungefähr so lange kenne ich sie auch schon, aber jetzt erst stoße ich auf diese kleine Skurrilität. Blamabel.


Ex cathedra: Die Top 3 der Songs von Van Morrison
1. „Sweet thing"
2. „Summertime in England"
3. „He ain't give you none"


Alle bisherigen Fundstücke des Tages:
1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14,
15, 16, 17, 18, 19, 20, Oh, my Google!

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30 Mai 2006

Am Polarkiez

Nur ein paar hundert Leute verlieren sich im Millerntorstadion, darunter Alexander, Alexander und ich. Dabei spielt die Türkische Republik Nordzypern beim Fifi Wild Cup gegen Grönland, hey!

Es ist so kalt, als hätten die Männer aus dem Eis eine Methode gefunden, ihr Standardwetter mit nach Hamburg zu schmuggeln. Unsere Hände nehmen die Form des außergewöhnlich steifen Bierplastikbechers an, denn an Fellhandschuhe hat keiner von uns gedacht. Wenn wir ausgetrunken haben, können wir unsere gebogenen Finger als Getränkehalter vermieten. Als Idee nicht schlecht, doch das Vermarktungspotenzial scheint angesichts des dünnbesuchten Turniers begrenzt. Nein, Wärme muss her. Wir müssen auftauen, irgendwie.

Da komischerweise nirgends ein Glühweinstand zu sehen ist, behelfen wir uns mit Currywürsten. Wenn man Gesicht und Hände ganz dicht über die dampfende Masse aus Fleisch und Soße hält, entsteht eine leichte Illusion von Wärme. Mit jedem Bissen allerdings schwindet dieser Effekt; ein Dilemma.

Zur Halbzeit führt Nordzypern mit 1:0. Die Stimmung auf den Rängen ist gedrückt. Keine Wende in der zweiten Hälfte. Wir trippeln auf der Gegengerade hin und her und schauen sinnierend unseren Atemwolken nach, während Grönland sich vergeblich abmüht, den auch auf dem Kiez vereinigungsunwilligen Nordzyprioten ein Remis aufzuschwatzen.

Ich halte Ausschau nach Opa Edi, kann seinen imposanten Grauschopf aber nirgends entdecken. Wir geben uns trotzig der nachgewiesenermaßen falschen Vorstellung hin, Alkohol wärme von innen, und holen uns die nächste Runde Bier. Jetzt spielt die Freie Republik St. Pauli gegen Gibraltar. Einige Hardcorepaulifans machen Stimmung. „Ein Tor, ein Tor, St. Pauli schießt ein Tor!“ fantasiert ein junger Bursche unbeeindruckt von Kälte und mangelnder Unterstützung, was allerdings die Männer vom Affenfelsen zur 1:0-Führung peitscht. Wir klatschen, und nicht nur aus Höflichkeit: Es wärmt.

Zur Halbzeit habe ich das Gefühl, mir werde es alsbald ergehen wie Ötzi, dem Gletschermann vom Hauslabjoch, sofern ich nicht recht bald in eine beheizte Berghütte flüchte. So verabschiede ich mich klappernd von sämtlichen Alexanders, zücke an der Budapester Straße noch kurz die Kamera für die pittoreske Tristesse einer gewissen Bühne 62 und finde muggelige Zuflucht im Grünen Jäger. Dort zieht gerade eine ebenso sympathische wie hochmittelmäßige Band aus Düsseldorf den Abend bis zur Hauptattraktion – Downpilot aus Seattle – in die Länge wie einst die Seiler auf der Reeperbahn ihre Schiffstaue.

Immerhin: Es ist warm. Und Downpilot spielen ihre langsamen Americana-Preziosen mit Ernst und Würde. Außerdem sieht der Sänger aus wie Jackson Browne.

St. Pauli hat übrigens wirklich noch den Ausgleich geschossen, wie ich aus dem Web erfahre. Psychologisch natürlich ganz schlecht für Gibraltar.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Kältebezug
1. „Shiloh Town“ von Tim Hardin
2. „Antarctica starts here“ von John Cale
3. „Frozen“ von Madonna

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08 Mai 2006

Doktor, meine Augen!

Wenn du acht Stunden lang über fünfzig Plattenkritiken redigiert hast, fühlen sich deine Augen an wie glühende Bleikugeln; du willst sie am liebsten in eine Schüssel mit zerstampftem Eis legen.

Und wenn dir nach einem solchen Tag abends ein freundlicher Mensch die Gelegenheit gibt, aus dem 14. Stock des Reeperbahnhochhauses einen blutigen Sonnenuntergang zu fotografieren, dann … kann am Ende schon mal eine wilde Photoshoppsychedelia dabei herauskommen.

Den blauen Fleck hinterließ übrigens eins jener Neonvierecke, die zurzeit über Hamburgs Dächern schweben und Fußballtore symbolisieren. Es gibt kein Entkommen.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Augenbezug
1. „Doctor my eyes“ von Jackson Browne
2. „As long as I can see the light“ von CCR
3. „Blinded by the light“ von Manfred Mann’s Earthband

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18 April 2006

Come on, spring!



























Die Tristesse eines Supermarktparkplatzes in einer spätwinterlichen Wochenendnacht ist schwer überbietbar.

Höchstens vom Dauerregen in einem Nordseekurort im Spätfebruar, wenn man durch die Fenster seiner fernsehlosen Fertigbauferienwohnung das „Geschlossen“-Schild am Eingang des gegenüberliegenden Schachtelkinos betrachtet, nachdem man soeben herausgefunden hat, den zur Sicherheit gekauften tausendseitigen Ferienschmöker zu Hause auf dem Nachttisch vergessen zu haben.

Der Parkplatz gehört Wal-Mart. Es werde Frühling.

Ex cathedra: Die Top 3 der Frühlingssongs
1. „Springtime in Alaska“ von Johnny Horton
2. „Come on spring“ von Mick Harvey
3. „So early in the spring“ von Pentangle

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13 März 2006

Der dunkle Trieb

Für Fahrradkuriere sind die Seitenstraßen rund um die Reeperbahn zurzeit eine echte Herausforderung. In die Schneeschicht auf dem Asphalt haben sich tiefe Reifenspuren eingegraben. Nach kurzem Antauen in der Mittagssonne froren die Furchen und Muster wieder zu – zum bizarren, passagenweise beinharten Parcours, der nur noch von Snowboardern zu bewältigen wäre.

Heute morgen sah man also vom Balkon aus einen schnittigen Kurier sein Rad wackligen Schrittes über den vereisten Seilerstraßengehweg schieben. Er schafft sein Pensum zurzeit ebensowenig wie die Postboten. Und drüben auf dem Heiliggeistfeld bauen fluchende Vermummte bei Frost und Schnee den sogenannten Dom auf, einen bundesweit bekannten Rummel, der dreimal im Jahr stattfindet und buchstäblich Millionen von Alk- und Achterbahnfans in unser Viertel lockt. Der am Freitag startende heißt Frühlingsdom, wird aber wohl winterlicher aussehen als der im November/Dezember; und der nannte sich Weihnachtsdom. Werden also kurzerhand die Mandelbrennereien aus dem Urlaub zurückbeordert? Der Frühlingsdom ist ja normalerweise eine Matjesdomäne.

Und werden sich die Besucher wirklich in jene eiswindumtoste Höhe begeben, in die das wirklich riesige Riesenrad vorstößt? Komischerweise traue ich mich alljährlich in dieses archaische Gefährt hinein, obwohl ich unter Höhenangst leide und auch sonst jedem zentrifugenähnlichen Herumwirbler auf dem Dom so fern bleibe wie die Gans dem Fuchs. Im Riesenrad sacke ich zwar tief in mich zusammen, rutsche halb vom Brett, umklammere krampfig mit weißlich schimmernden Fingerknöcheln die Sitzbankkanten und denke unablässig „Ogottogott!“, doch aus irgendeinem Grund habe ich mich ja dort hineinbegeben, also muss eine gewisse rationale Entscheidungsfindung vorausgegangen sein.

Früher war Ms. Columbo die Taffe von uns beiden, die das schief grinsende Häufchen Elend gegenüber mit besänftigendem Lächeln auf die grunsätzliche Harmlosigkeit der Gesamtsituation hinwies. Doch sie spürte ja auch nicht die Sogkraft des Abgrunds. Der Akrophobiker fürchtet sich nicht vor der Tiefe an sich, sondern vor einem dunklen Trieb in ihm selber, der beschwörend flüstert: Steh auf, erklimme das Geländer – und spring! Gruselig.

Vielleicht waren viele Selbstmörder gar keine, sondern einfach willensschwache Menschen mit Höhenangst, die der hypnotischen Stimme des dunklen Triebes keinen Wunsch abschlagen konnten. Heutzutage klammert sich Ms. Columbo übrigens mit genauso weißlich schimmernden Fingerknöcheln ans lächerlich schmale Sitzbrett, und ihr Lächeln ist nicht mehr besänftigend, sondern verbissen und schief. Das hilft mir allerdings noch weniger.

So fahren wir alljährlich mit dem Riesenrad hinauf in den Himmel über St. Pauli (Foto), zwei schockstarre Gestalten im Sandwich der Gefühle – zwischen Panik und schöner Aussicht.

Nächste Woche soll es Frühling werden. Und wir werden aus irgendeinem Grund wieder für sechs Euro zwei Riesenradkarten lösen. Hoffentlich hat der dunkle Trieb dieses Jahr nicht plötzlich neue Tricks auf Lager.

Ex cathedra: Die Top 3 der Hymnen an den Frühling, verkündet von BJ Andreas
1. „ Springtime“ von Jonathan Richman
2. „I live in the springtime“ von The Lemon Drops
3. „Spring rain“ von Go-Betweens


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11 März 2006

Der große Schnee (2)


Willkommen in Kiezbühel!

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10 März 2006

Der große Schnee

Der Kiez sieht aus, als wäre er zur idealen Disneyland-Winterlandschaft hergerichtet worden, und zwar von Michael Jackson als Artdirektor. Räumfahrzeuge haben es längst aufgegeben, die Reeperbahn zu räumen. Zwischen World of Sex und dem Schmidttheater gegenüber ist alles eine große weiße Fläche; sogar die gewaltige Baugrube, die einmal der Spielbudenplatz war, wird nivelliert vom Schnee.

Seit heute früh um 5 fällt er unablässig, wie mir eine glaubwürdige Augenzeugin – Renate vom Käseladen – mit Behagen berichtete. Und weil alles so harmonisch geweißt wurde im Lauf des Tages und des Abends, weil man nicht mehr sieht, wo der Gehweg aufhört und die Straße beginnt und es deshalb egal scheint, ob man nun an der Fußgängerampel oder irgendwo anders die Seite wechselt, stolpern die Touristen mitten auf der Reeperbahn herum und werden wütend angehupt von schneckenhaften Taxis.

Wie auf Kommando entschloss sich übrigens halb Hamburg, die jahrhundertwinterartige Wetterlage zu nutzen, um die Unfallstatistik ordentlich aufzumöbeln. Die Polizei zählte bis jetzt 300 Crashs. Wieso dieser Automatismus – schlechtes Wetter, viele Unfälle – immer wieder wirksam wird, ist vollkommen schleierhaft. Wenn die Welt dort draußen offensichtlich die wildeste Schnee- und Eisorgie seit anno dunnemals inszeniert, dann setze ich mich doch nicht ins Auto und rutsche mit Ansage in ein anderes. Nun: anscheinend doch.

Als ich heute Nachmittag nach Hause stapfe und am Burger King an der Ecke Reeperbahn und Davidstraße vorbeikomme, fällt mir das Interview mit Adam Green wieder ein, das ich heute bei Spiegel online las. Green sitzt, wie er sagt, liebend gern dort am Fenster, um den Prostituierten bei der Arbeit zuzuschauen, während er einen Burger mampft. Im Vorbeigehen habe ich reingeschielt, aber heute war er nicht da.

Es war auch noch zu früh; die Huren haben erst ab 8 Dienstbeginn. Und Green wäre eh nicht durchgekommen bis zum Kiez, bei dem Schnee.


Ex cathedra: Die Top 3 der Wintersongs
1. „Night shift“ von Bill Morrissey
2. „Snowin' on Raton“ von Townes van Zandt
3. „Winterlong“ von Neil Young


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26 Januar 2006

Der Schneebikini

Hamburg wandelt sich unablässig, es häutet sich unter Getöse. Da schaust du ein paar Wochen mal nicht hin, und schon ist dieses Gebäude weg, jenes eingerüstet, und ein Dönerladen hat einen Handyshop verdrängt. Oder umgekehrt.

Und auf der Reeperbahn, vor den Sextoy-Hökern wie WOS, gähnt uns zurzeit der Strand unterm Pflaster an. Man sieht hinab in die Erde und staunt, wie viele Rohre sich im Geheimen durchs Dunkel unter unseren Füßen schlängeln.

Auf der Bretterbrücke über der Baugrube vorm WOS sieht man manchmal einen Straßenarbeiter stehen, wie er versonnen die Auslage betrachtet, ganz versunken in die fantasiebefeuernde Strahlkraft des breitgefächerten Dildosortiments. Wahrscheinlich wird ihm gerade klar, wie stark ein Job in einer stillgelegten Duisburger Zeche jetzt abfiele gegenüber dem stimulierenden Hier und Jetzt. Statt Sextoys sähe sein Auge Sickergruben. Manchmal ist das Leben gerecht.

Hamburg also baut sich ständig um, nichts Materielles ist hier von Dauer, nicht mal der Michel so richtig. Der Nachteil dieser unablässigen Umwälzung: Man kann hier einfach keine Fotos auf Halde schießen. Kaum geknipst, verflüchtigt sich das Motiv. Die Weltbühne, das Hotel Hohenzollern, der Astraturm: Allesamt wurden sie zu Schall und Rauch, zu Erinnerung, und ihr Verschwinden ließ Blog-Einträge verwittern.

Auch die heute abgebildete schneeumkränzte Statuengrazie am Stephansplatz beweist nicht den just herrschenden Winter, sondern den letzten. Doch ihr Bikini aus Schnee steht ihr jedes Jahr gleich gut.

Ex cathedra: Die Top 3 der dynamischsten Songs
1. „Burn baby“ von Mother Tongue
2. „Blood shot adult commitment“ von Madrugada
3. „Each little cannibal“ von Shoulders


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14 Januar 2006

Die Enttarnung

Wenn es wintert in Hamburg und die Teiche sich einen Mantel aus Eis überziehen, dann sieht man sie erstaunlich oft: festgefrorene Einkaufswagen. Warum das so ist, weiß ich nicht. Irgendwer muss die mobilen Drahtgestelle aus dem Supermarkt entführen, die Einkäufe daheim ausleeren und sogleich von derart immenser Trägheit übermannt werden, dass er völlig unfähig wird, die Wagen wieder zurückzubringen.

Zum Glück reicht die Kraft noch bis zum zuverlässig in der Nähe liegenden Teich, der auch noch justament am Zufrieren ist. Also rein damit. Das passiert allwinterlich, woraufhin ich auf den Plan trete und die Metallskulptur auf Eis fotografiere, nach Möglichk
eit im Gegenlicht. Das heutige Exemplar wird von seiner Rolle als stoischer Lastesel bis zum Frühjahr entbunden sein. Und auch wenn die Hamburger Stadtreinigung es aus seiner Kontemplation befreit haben wird, muss es kaum noch mit einer Wal-Mart-Einberufung rechnen. Nein, ihm droht direkt die Schrottpresse.

Ich entdeckte den Wagen im Von-Melle-Park, wo heute Flohmarkt war und ich ein paar seltene Country- und Songwriterplatten erstehen konnte (Guy Clark, Ian Matthews, Neil Young, Dianne Davidson, Hank Wilson).

Um die Ecke, in der Grindelallee, plärrt mir der Bücherramschladen Wohlthat schwarz auf knallgelb ein „Alles muss raus!“ ins Gesicht. Natürlich denkt man, hier sei der große Ausverkauf ausgebrochen. Halb Hamburg wühlt also hektisch nach Schnäppchen wie „1000 Nudes“ für 9,95 statt 428 Euro oder so. (Übrigens prangt auf dem Cover von „1000 Nudes“ nicht mal eine Nackte, sondern eine offenbar in den 20er Jahren abgelichtete Dame im Mieder. Was soll man da
von halten?)
Das lautlose „Alles muss raus!“-Geplärre ist aber nur ein Trick. Natürlich muss alles raus, klar – aber nur, damit Wohlthat richtig Reibach macht. Die Schilder hängen nämlich schon länger da, und nicht nur in der Grindelallee, sondern auch in der Bahrenfelder Straße; und nicht nur in Hamburg, sondern auch in Marburg – und wahrscheinlich überall dort, wo Wohltat rumpeldumme Blödiane vermutet.

Das Ganze ist einfach ein fieser kleiner Marketingfake, mit dem man an unsere dumpfe Gier nach billig appelliert. Aber der Fake funktioniert jetzt nicht mehr, Wohlthat, denn er ist enttarnt – hier in diesem Blog.
Ha.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Twilight“ von Neil Young, „Dead flowers“ von Townes van Zandt und „Lookin’ out my back door“ von Creedence Clearwater Revival.


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29 Dezember 2005

Die weiße Nacht

Der Kiez, ein Wintertraum. Dreck, Elend, Glamour und Blendwerk: alles eingeebnet, gleichgemacht vom großen Weiß des Winters. Man geht wie verzaubert durch Tage wie diese, wenn der Schnee wirklich liegen bleibt, wenn er sich nicht gleich verwandelt in jenen braunen Matsch, der Städte, die kaum höher liegen als das Meer, allwinterlich heimsucht.

In der Seilerstraße herrscht eine Ruhe wie lange nicht mehr. Der Schnee würde alle Geräusche dämpfen, doch es gibt keine. Der Verkehr ruht, und wer zu Fuß vorüberhastet, der zieht sich in sich selbst zurück, der duckt sich tief in seinen Mantel und sucht den schnellsten Weg nach Hause. Oder in die nächste Kneipe.


Gelassen dämmern die Autos im Parkverbot durch die Seilerstraßennacht. Wer jetzt keinen Anwohnerparkschein hat, der braucht auch keinen mehr. Denn keine Politesse wird sich herbemühen, um den dicken Schnee von den Scheiben zu wischen und die Finsternis dahinter nach dem richtigen Wisch abzusuchen.


Nächte wie diese sind heller als unter Vollmond. Denn die unermüdlichen urbanen Lichter spiegeln und verdoppeln sich in jeder Flocke und lullen alles ein in sattes milchiges Weiß – sogar den Himmel über der Stadt.


Der Kiez, ein Wintertraum. Wer jetzt allein ist, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Straßen hin und her mit geradem Blicke wandern, wenn die Flocken treiben – denn man sieht sie ja eh nicht mehr unter all dem Schnee, die Hundekacke.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „For all we know“ von Parov Stelar, „I'd rather go blind“ von Rod Stewart und „Last dance“ von Dirty Three.


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29 Oktober 2005

Der Zwischenfall

Gestern in der Redaktion sitze ich bei offenem Fenster im T-Shirt am Rechner und lasse mir von meinem nagelneuen USB-Ventilator Kühlung zublasen. Ich meine: Es ist fast November! Das geht doch nicht. Alles gerät aus den Fugen.

Auch abends. Wir sind bei Freunden zum Essen, in Bahrenfeld. Die S-Bahnlinie 1 verbindet die Station Reeperbahn mit diesem westlichen Stadtteil. Abends fahren die Züge nicht mehr so oft. Als wir gegen 23.15 Uhr den Bahnsteig betreten, müssen wir uns auf 15 Minuten Wartezeit in klarer Oktoberkälte einstellen.


Dass es am Ende fast 45 werden, liegt nicht an der Bahn. Sondern an einem besoffenen 18-Jährigen, der beschließt, auf die Gleise hinabzusteigen und über die Schwellen ins Dunkel hinauszustolpern. Wir kriegen es nicht live mit, sondern nur das, was dann passiert: nämlich die Reaktion seines nüchternen Kumpels, der hinterherspringt und nach einer Weile erfolglos und panisch zurückkehrt (Ankunft der Bahn: in 12 Minuten), den Notrufknopf drückt und adrenalingepeitscht mit einer reservierten Dame am anderen Ende verhandelt, während wir ihm soufflieren, wie die Richtung heißt, in die der Unzurechnungsfähige entschwunden ist. Ein weiterer wartender Fahrgast ruft derweil die Polizei. Ankunft der Bahn: in acht Minuten.


Der just eingefahrene Zug auf dem Gegengleis bleibt vorsorglich stehen, man weiß ja nicht, wo der verschwundene Verwirrte hintaumelt. Bald herrscht richtig Betrieb auf dem Bahnsteig. Ratlos stehen Menschen herum, verärgert, besorgt. Der panische Kumpel will nicht auf die Einsatzkräfte warten und springt erneut auf die Gleise, um seinen Freund zu retten. Und wirklich: Zwei Minuten später hat er ihn am Schlafittchen und schleppt ihn hoch. „Alles deine Schuld!“ schreit er ihn an, „deine Mutter wird dich verprügeln!“

Und jetzt kommen sie alle binnen weniger Minuten an, die Blau- und die Grünhemden, die Streifenpolizisten und die Kripo, die S-Bahn-Exekutive, und alle umringen die Jungs, es wird unübersichtlich. Längst ruht der komplette Fahrbetrieb, auf der Anzeige steht gar keine Zeitangabe mehr. Ankunft der Bahn: irgendwann.

Der Verursacher steht stumpf und schwankend da, die Fäuste tief in die Taschen gestemmt, und ihm dämmert, dass er ein Problem hat. Was er da unten gewollt habe, im Dunkeln auf den Gleisen? Er weiß es nicht mehr. Er wollte einfach weg. Seine Ruhe haben. Er ist 18, wohnt alleine, und Mama sitzt in Harburg. Ob sie ihn abholen kann? „Sie kriegt Sozialhilfe“, murmelt er verwaschen, und für ihn scheint das die Antwort auf die Frage zu sein.


Die Polizei befragt Zeugen, es geht darum, wer alles Schuld hat an diesem Schlamassel. Darum, ob der kleine Retter mitbelangt werden muss oder seine Aktion legitim war – das wird noch richtig wichtig, denn es geht um viel Geld. Die Einsätze der Rettungskräfte wollen bezahlt sein, das komplette Lahmliegen der S1 zwischen Wedel und Poppenbüttel verursacht ebenfalls finanzielle Schäden.

„Deine Mutter“, ruft der Kleine wieder voller Zorn und Resignation, „wird dich verprügeln!“ Er sitzt jetzt zerschlagen auf der Drahtbank. Der Gerettete bittet ihn stumm um eine Kippe, und er reicht sie ihm mit müder Geste. Neben ihnen sitzt ein weiterer Freund wie tot auf der Bank, sein Kopf hängt zwischen den Knien, er ist derartig voll, dass man ihm morgen alles über diese Scheißnacht erzählen muss. Sofern er dann schon wieder aufnahmefähig ist.

Ah, seliges Teenagerleben.


Auf unserer Heimfahrt – nach rund 45 Minuten – sah es dann übrigens draußen ungefähr so aus wie auf dem heutigen Foto.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Rockin' chair“, „It makes no difference“ und „Tears of rage“, alle von The Band (die monothematische Auswahl liegt an einem Band-Sampler, den ich mir gestern Nacht zusammenstellte).

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15 Oktober 2005

Die mediterranen Hanseaten

Die Bäume in Hamburg fragen sich zunehmend verständnisloser, wann denn endlich der Befehl zum Blättervergilben und -abwerfen kommt. Wahrscheinlich auch das abgebildete Exemplar an der Schulterblatt-Piazza, wo heute das Leben tobt wie zu besten Sommerzeiten.

Vor der portugiesischen Pastelaria Transmontana stehe ich wohlig 20 Minuten draußen in der Schlange, von oben die wärmste Oktobersonnendusche seit der letzten Eiszeit, von vorn ein Duftmix aus Natas, Galão und Toast und aus allen anderen Richtungen das gedämpfte Glücksgemurmel der sommerlich gekleideten Schanzenviertelmenschen, die heute nicht an gestern und morgen denken, sondern nur ans selige Hier und Jetzt.

Hamburger verwandeln sich augenblicklich von eingemummelten Raupen in juchzende Schmetterlinge, sobald die Sonne sagt: Hier bin ich! Wenn im Februar die ersten zagen Frühlingsahnungen aufkommen, stürmt der Hamburger dick verpackt ins Freie und wirft sich empört den Merinoschal über die Schulter, wenn seine Stammkneipe noch keine Tische rausgestellt hat. Die Chance ist aber klein, denn die Kneipiers sind ja selber Hamburger.

Und wer ein Cabrio hat, schlüpft beim ersten bleichen Spätwintersonnenstrählchen in Lammwollmantel und Thermohandschuhe und erkärt die Saison feierlich für eröffnet, natürlich mit versenktem Dach.

Jeder Hanseat ist tief im Herzen glühend mediterran, und er lebt das - der geografischen Lage zum Trotz - so oft und so lange aus wie irgend möglich. Heute ist es komplett ausgeschlossen, da nicht mitzutun. Ich reaktiviere also die Sonnenbrille und lese auf dem Balkon Zeitung, umwogt vom Soundtrack St. Paulis: von schräg gegenüber das Dauergebrumm der Klimaanlage des Spielsalons, aus südlicher Ferne das vereinzelte gutturale Sehnsuchtströten eines Kreuzfahrtschiffs, von der Reeperbahn her das urbane Grundrauschen des Individualverkehrs, vom Himmel das Wasserflugzeug und von irgendwoher die Hibbeligkeit einer Polizeisirene.

Und jetzt: der verdammte Mopedterrorist von gegenüber, der immer minutenlang öttelnd vorm automatischen Garagentor steht, bis es endlichendlich aufgegangen ist. Eine Kakophonie, klar. Doch sie klingt nach zu Hause.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Lately“ von Vashti Bunyan, „Hope there's someone“ von Antony & The Johnsons und „Lelah Mae“ von Jeb Loy Nichols.

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